20 Jahre ist es her. Da hatte ich begonnen, zusammen mit meiner Frau einen monatlichen Beratungsbrief zu schreiben. Er heißt "simplify your life", "Vereinfache dein Leben" und es gibt ihn immer noch. 2001 ist daraus ein Buch entstanden, das zu einem weltweiten Bestseller wurde.

Ich erzähle Ihnen das, weil es vor ein paar Monaten in unserer bayerischen evangelischen Kirche einen Aufruf gab: "simplify your church!" "Vereinfachen wir doch unsere Kirche!" Die Präsidentin der Landessynode, Annekathrin Preidel, hatte mit dieser Parole die Frühjahrstagung im April eröffnet. Und diese simplify-Steilvorlage hat mir keine Ruhe gelassen.

Warum "simplify" ein englisches Wort ist

Kann man das so einfach sagen: die Kirche vereinfachen? Natürlich kann man sich das wünschen. Dass es doch bitte einfacher werde, das ist ein großer Traum. Unsere Welt wird von den meisten Menschen als immer komplizierter empfunden. Das liegt wohl auch daran, dass wir immer mehr wissen. Tagtäglich erfahren wir von Ereignissen aus der ganzen Welt. Wir merken, dass alles mit allem zusammenhängt, und wir wünschen uns Vereinfachung. Es ist sicher kein Zufall, dass dieser Wunsch ausgerechnet auf Englisch so populär geworden ist: "simplify your life". Wir rufen ihn sicherheitshalber in der Weltsprache, damit ihn möglichst die ganze Welt versteht und beim Vereinfachen mitmacht.

Sogar die Präsidentin der bayerischen Synode hat es auf Englisch gesagt: Simplify your church. Das klang für mich erst einmal wie ein Seufzer. Unsere Kirche ist, schon rein organisatorisch, immer komplexer geworden. Wer in einer Kirchengemeinde mit Finanzen oder Baumaßnahmen zu tun hat und dadurch mit den verschiedenen Abteilungen der kirchlichen Verwaltung, der hat sicher oft gestöhnt: "simplify your church!"

"simplify your church" könnte auch die Grundidee der Reformation gewesen sein: Re-Formation – zurück zur alten Form. Es soll wieder so einfach werden wie am Anfang: Jesus mit zwölf Jüngern. Zusammensitzen beim Essen. Sich versammeln zum Gebet. Alles miteinander teilen. Kranke heilen. Den Nächsten lieben, ja sogar den Feind. Da sein für andere.

Sich verschenken

Das hat Annekathrin Preidel in ihrer simplify-your-church-Rede klar gesagt: "Es könnte sein, dass wir erst dann wirklich zur Kirche Jesu Christi werden, wenn wir unsere Energie nicht nur in unsere Selbsterhaltung investieren. Sondern dass wir verschwenderisch überfließen und unsere Energie anderen zugutekommen lassen."

Martin Luther hatte sich zu seiner Kirche durch die radikalen Gelübde eines Mönchs verpflichtet. Aber dann hat er vor 500 Jahren seine Kirche vereinfacht: Von sieben Sakramenten hat er vier gestrichen. Das hierarchische System von Pfarrern, Dekanen, Bischöfen, Erzbischöfen und Papst hat er abgelehnt. Ebenso die Ehelosigkeit der Priester, die Verpflichtung der Mönchsgelübde. Ja sogar die Autorität der studierten Theologen. Jeder Christ, jede Christin sollte die Bibel lesen und verstehen lernen. Jeder sollte Priester sein können: das allgemeine Priestertum aller Gläubigen. Für die Betroffenen war das keine Reformation, kein idyllisches Zurück zur Urkirche. Das war Revolution, Umsturz, Radikalismus, und so wurde denn auch ein mehrere Generationen dauernder, furchtbarer Konfessionskrieg daraus.

Warum Vereinfachen so schwer fällt

Vereinfachen kann ausgesprochen schmerzvoll sein. Vereinfachen besteht aus lauter Abschieden. Die Synodalpräsidentin hat sich in ihrer Eröffnungsrede eine Kirche gewünscht, "die sich darum bemüht, den einfachen Zugang zur Liebe Gottes freizulegen. Eine Kirche, deren Schwellen nicht zu hoch sind." Aber Barrieren wegzuräumen ist gar nicht so einfach, sagte sie weiter. Loslassen tut weh. Denn, und das ist eine wichtige Einsicht gerade für ältere Menschen, zu denen ich längst auch gehöre: "Je älter wir werden, desto eher neigen wir dazu, die gute alte Zeit zu verklären." So ging es auch mit dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen. Wie an einem Gummiband zog es die Gläubigen und die Priester immer wieder zurück in die alten Gewohnheiten, in die alten Hierarchien. Da muss sich Kirche immer wieder aufs Neue reformieren und vereinfachen und sich das allgemeine Priestertum zurückerobern.

Wie lässt sich Vereinfachung darstellen in der Musik? Mir ist dazu ein Stück in den Sinn gekommen, das mich schon lange begleitet: "Clair de lune", Mondschein, der dritte Satz der "Suite bergamasque" des französischen Komponisten Claude Debussy. Entstanden ist es 1890. Ich möchte es Ihnen in verschiedenen Versionen vorstellen – in der Reihenfolge, in der es mir begegnet ist. Das erste Mal habe ich es 1974 gehört, in der elektronischen Interpretation des japanischen Musikers Isao Tomita.

Gerade einmal fünf Jahre, bevor dieses Stück herauskam, war das Instrument erfunden worden, auf dem es gespielt wurde: der Synthesizer, eine Entwicklung des amerikanischen Elektrotechnikers Robert Moog. Ein hochkompliziertes Gerät, mit einer eindrucksvollen Tafel voller Drehregler, Stecker und wild durcheinander hängender Kabel. Oh je, was sind das für Klänge! Wie unnatürlich! So klagten damals viele in der Musikwelt. Isao Tomita hielt ihnen entgegen, dass solche Klänge keineswegs unnatürlich wären. Sondern dass Menschen schon seit Urzeiten elektrische Sounds hören: Das Krachen beim Blitz und das Beben des Donners sind elektrisch erzeugte Töne der Natur.

Warum "neu" und "alt" keine guten Etiketten sind

Das ist, finde ich, ein schönes Bild für das Ineinander von Reformation und Revolution. Was uns neu erscheint, hat häufig einen uralten Hintergrund. Und was wir als gewohnt und traditionell empfinden, ist oft gar nicht so altehrwürdig, wie es tut. "Simplify your church", Reformation, geistliches Wachstum – das lässt sich nicht einordnen in die schlichten Kategorien von "neu" oder "alt". Vereinfachen kann gleichzeitig ein Weg zurück sein und ein Aufbruch in die Zukunft.

Heute ist im Kirchenjahr der 10. Sonntag nach Trinitatis. An diesem Tag denken wir Christen an das Volk, dem Jesus angehörte. Der Predigttext für den heutigen Israelsonntag stammt aus dem Buch Jesus Sirach. Man könnte ihn überschreiben mit "Der Traum von der ganz großen Reformation".

Bring die Stämme der Nachkommen Jakobs wieder zusammen! Gib ihnen das Land wieder, das du ihnen am Anfang als Besitz zugeteilt hast! Hab Erbarmen mit dem Volk, das deinen Namen trägt, mit Israel, das du deinen erstgeborenen Sohn genannt hast! Hab Mitleid mit Jerusalem, der Stadt, in der dein Heiligtum steht und die du erwählt hast, um dort zu wohnen! Erfülle die Stadt Zions mit deinem Ruhm und deinen Tempel mit deiner Herrlichkeit! (Jesus Sirach 36, 13–19)

Einige Theologen finden es inzwischen falsch, vom "Alten" und "Neuen" Testament zu sprechen. Alt und Neu, Prophezeiung und Erfüllung, das sind – aus der Perspektive Gottes gesehen – unpassende Bezeichnungen. Das eine ist im anderen enthalten. Jesus war Jude, so ähnlich wie Martin Luther Katholik war. Und doch haben sie Neues geschaffen.

Dieser Traum von der ganz großen Reformation aus dem sogenannten Alten Testament wird am Ende des sogenannten Neuen Testaments noch einmal aufgenommen: Unsere Bibel endet mit einer großen Vision vom himmlischen Jerusalem. Ich finde es müßig, zu fragen, ob die Juden immer noch auf den erhofften Retter warten, und wir Christen nicht mehr. Nein, wir warten nach wie vor gemeinsam, und wir sind gleichermaßen erfüllt von der Gewissheit, dass er längst gekommen ist, in jeder und jedem von uns. Das Reich Gottes ist mitten unter euch, sagte Jesus, es ist einfach mitten in euch.

Warum immer weniger Menschen in die Kirche gehen

Woran kann man überhaupt erkennen, ob der angekündigte Retter gekommen ist? An der Kirche, lautet die Antwort, an der sichtbaren Gemeinschaft der Christen. Aber wie sieht diese Kirche heute aus? In den Kirchengebäuden versammeln sich immer weniger Menschen, die Gottesdienste haben viel von ihrer früheren Anziehungskraft verloren. Selbst bei den großen Treffen wie Kirchentagen und Katholikentagen gehen die Zahlen zurück. Viele Menschen kündigen ihre Mitgliedschaft und verlassen ihre Kirche für immer. Doch trotz allem existieren die Kirchen. Sie sind eine große gesellschaftliche und religiöse Kraft, nach wie vor. Ganz offensichtlich lässt sich die Macht einer Gemeinschaft nicht so einfach in Besucher- oder Mitgliedszahlen messen.

Ich habe gelernt, dass ein Christ Gemeinschaft braucht. Zugleich habe ich erfahren, dass das menschlich-allzu-menschliche Miteinander in einer Gemeinde einen auch herunterziehen kann. Entscheidend ist für mich die Gemeinschaft mit Jesus Christus als innerem Meister geworden, und das geht einer großen Zahl von Christinnen und Christen auch so. Diese intensive innere Verbundenheit mit Jesus Christus nennt man Mystik. Diese mystische Vereinigung mit Gott ist für mich der innerste, tiefste Kern der Sehnsucht nach einer vereinfachten Kirche: eine Gemeinschaft von Menschen, die verbunden sind mit Jesus Christus, ob sie es laut bekennen oder nicht, ob es ihnen verstandesmäßig bewusst ist oder ob sie es tief in ihrem Innersten zart spüren.

Die mystische Gemeinschaft der Christen

In dieser Herzenskirche spielen Konfessionen längst keine Rolle mehr. Hier geht es nicht mehr um Dogmen und Glaubensfragen, sondern um Liebe und Verbundenheit. Ein Gefühl, das mich erinnert an meine Suche nach dem Woher der zauberhaften Musik, die durch Isao Tomitas Synthesizerklänge an mein Herz gedrungen war. Auf dem Umweg über dieses elektronische Gezirpe kam ich auf die modernere klassische Musik, und ich bekam heraus, dass "clair de lune" eigentlich für ganz andere Instrumente geschrieben worden war.

Ich empfand die gewohnten Klänge der Orchesterinstrumente nicht unbedingt als schöner oder besser als die Synthesizer-Sounds. Aber irgendwie klangen sie einfacher, und darin lag für mich eine neue Stufe der Qualität. Doch wie einfach ist ein Orchester? Es ist eine hochkomplexe Organisation, ein Miteinander vieler einzelner Musiker, von denen jeder eine lange und aufwendige Ausbildung durchlaufen hat. Jedes einzelne Instrument ist kompliziert zu bauen und zu spielen, und trotzdem ergreift das Resultat, dass ich am Ende höre, mein Herz auf eine herrlich einfache Weise.

Warum es keine wirkliche Einfachheit gibt

So ist es auch mit dem Traum von der Einfachheit. Es gibt sie nicht, niemals. Diese Welt ist nicht einfach. Unser Körper ist nicht einfach. Er ist ein unvorstellbar komplexes Ineinander von Billionen von Zellen, Millionen mal Millionen. Jede einzelne dieser enormen Zahl von Zellen ist ein Lebewesen für sich, bestehend aus Billionen von Molekülen, in dem komplizierteste Regelkreise ablaufen, hunderte in jeder Sekunde. Im Darm jedes Menschen leben mehr selbstständige Lebewesen, als es Menschen auf der Erde gibt. Jeder Körper eines Menschen oder eines Säugetiers ist gleichsam ein Planet für sich.

Und jeder davon organisiert sich selbst, in einem bis heute gerade einmal ansatzweise erforschten System. Ganz besonders komplex ist unser Gehirn, das so gerne von der Einfachheit schwärmt. Zu den überraschendsten Entdeckungen der Gehirnforschung in den letzten Jahrzehnten gehört die Einsicht, dass es in diesem Gehirn keine Zentrale gibt. Es finden sich dort unzählige Regelkreise, aber jeder Nerv, jede Zelle, organisiert sich gleichzeitig auch selbst. Jeder Zellverbund, jedes Organ, ist gleichzeitig selbstständig und von anderen beeinflusst.

Schon der Apostel Paulus hat dieses erstaunliche Zusammenspiel der Teile unseres Körpers als Gleichnis gesehen für die Gemeinschaft der Christen: "Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich brauche dich nicht. Der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht." Er fasst das zusammen in einem wunderbaren Bild: Gemeinsam, sagt er, sind wir der Körper Christi. Seit er nicht mehr auf der Erde ist, sind wir er.

Nein, eine wirklich einfache Kirche wird es nie geben. Es wird immer in ihr menscheln. Es wird immer Diskussionen geben, Spaltungen und Kooperationen, Streit und Versöhnung, und Kompromisse. Immer wieder träumen Christen von einer starken einheitlichen Kirche mit straffer zentraler Leitung. Aber sobald sich jemand als so ein zentraler Leiter aufspielt, gibt es heftigste Proteste. Kirche bleibt ein lebendiger, sich verändernder und ständig gefährdeter Organismus, und gerade dadurch ist er der Körper Christi.

Auf die Richtung kommt es an

Also Abschied nehmen von der Idee "simplify your church"? Nein. Mir ist der Untertitel meines simplify-Buchs immer wichtiger geworden. Er lautet: "Einfacher und glücklicher leben." Es gibt keine endgültige Einfachheit, kein vollkommenes Glück. Es kommt auf die Richtung an, auf die Bewegung hin zu Einfachheit und Glück: Es soll nicht noch komplizierter werden, sondern einfacher. Es soll nicht unglücklicher, schmerzhafter und leidender zugehen bei den Menschen, sondern glücklicher, leichter. Im Vereinfachen geht nichts verloren, im Gegenteil. Es wird verdichtet, konzentriert, das Wichtige wird klarer. Wir werden lernen müssen, Verschiedenheit auszuhalten, auch mitten in unseren Kirchen. Doch wir sind dabei unterwegs auf einem Weg, bei dem sich viele wunderbare Entdeckungen machen lassen.

Auf meiner Entdeckungsreise zu Claude Debussy fand ich heraus, dass "clair de lune" noch viel einfacher war, als ich dachte. Debussy hat es gar nicht für ein Orchester geschrieben, sondern als Klavierstück für einen einzelnen Musiker. Manchmal besteht es nur aus einem einzelnen Ton, gespielt mit einem einzigen Finger, der einen als Zuhörer bezaubert.

Was mir mit dem Mondscheinlied passiert ist, habe ich während meines Lebens auch mit dem Glauben erlebt: Er ist immer einfacher geworden. Am Anfang habe ich die vielen Außenseiten des Glaubens gesehen: Gottesdienst, Abendmahl, Konfirmation, Lieder, Gebete, biblische Geschichten, Rituale, Treffen, Feste, Institutionen, Hilfswerke, Organisationen, Spenden. Später, als Theologiestudent und Pfarrer all die philosophischen Hintergründe, die Lehre vom Opfertod Christi, von der Sündhaftigkeit des erlösungsbedürftigen Menschen, von der Dreieinigkeit, von den Konfessionen, dem Amtsverständnis, und was nicht noch alles.

Die Grundmelodie unseres Glaubens

Vieles davon ist inzwischen in den Hintergrund gerückt. Geblieben aber ist eine zu Herzen gehende, unverwechselbare Melodie. Das Lied von der Stärke der Liebe, von der Macht der Machtlosigkeit, von der Menschlichkeit Gottes. Das ist es, was uns verbindet, bei aller Verschiedenheit. Seit es Christen und Kirchen gibt, haben sie versucht, das Verbindende zu formulieren. Glaubensbekenntnisse sind daraus entstanden, um jede Formulierung darin wurde lange gerungen. Doch mich hat das Glaubensbekenntnis immer merkwürdig kalt gelassen. Was verbindet uns Christen emotional, was berührt gemeinsam unsere Herzen? Der Menschensohn Jesus natürlich. Er verbindet uns, aber nicht die Rede über ihn, sondern was er selbst gesagt hat. Am einfachsten zusammengefasst finde ich es in dem Gebet, das er uns hinterlassen hat, das Vaterunser. Dort ist nicht die Rede von Opfer oder Sünde, von Buße oder Zwang, sondern von Brot, Vergebung, Kraft.

Es gibt einen simplify-Gottesdienst, der sich schon lange bewährt. Er enthält eine Ansprache, Musik, aber fast keine Liturgie. Nur eben dieses Vaterunser, und einen kurzen Segen am Ende. Dieser simplify-Gottesdienst benötigt kein spezielles Gebäude, und seit Jahrzehnten ist er der bestbesuchte Gottesdienst in Bayern und weit darüber hinaus. Sie nehmen in diesem Augenblick daran teil. Die Evangelische und die Katholische Morgenfeier hat, so das Ergebnis der jüngsten Media-Analyse, gut 1 Million Hörer. Mehr als sich in allen Kirchengebäuden Deutschlands an diesem Sonntagvormittag versammeln. Auch Sie, wir alle, sind Kirche Jesu Christi. Wir sind verbunden, in diesem Moment.

Es gibt noch einen Grund, warum ich Debussys Musik über den Mond als Soundtrack zum Thema Vereinfachung ausgesucht habe. Der Mond ist eine dunkelgraue Kugel. Er leuchtet nicht, sondern er wird beleuchtet. Seine dunkle Oberfläche genügt, um ein mildes, zutiefst berührendes Licht auf unsere Erde zu senden. Denn die Sonne, die ihn bestrahlt, hat enorm viel Energie.

Auch die Kirche ist meist nicht so hell, wie sie gern wäre. Aber sie wird von einem riesigen, überhellen Licht beschienen, und das lässt sie wundervoll strahlen. Das hat sie gemeinsam mit uns Menschen.