Alle Jahre wieder, liebe Hörerinnen und Hörer, sind es besondere Minuten im Weihnachtszimmer für mich: Der Familiengottesdienst ist zu Ende, wir sind aus der Kirche heimgelaufen – die Kinder um einiges schneller als wir –, und jetzt stehe ich allein vor dem Christbaum. Mein Mann und ich haben ihn in der Nacht aufgestellt und geschmückt, die Kinder sehen ihn erst, wenn jetzt, am Abend, die Tür zum Wohnzimmer geöffnet wird. Sie müssen sich noch kurz in ihren Zimmern gedulden: Bevor ich die Glocke läute, die sie hereinruft, zünde ich die Kerzen am Baum an. Es ist still im Raum, auf eine ganz eigene Weise, und während ich von Kerze zu Kerze gehe, ist es, als würde jeder geschmückte Zweig ein "Weißt du noch" raunen.

Da hängt die kleine silberne Kugel, die ich als Kind selbst blasen durfte, als ein Glasbläser in meiner Schule zu Gast war. Daneben die pastellfarbenen, mit Glitter beklebten und auf kuriose Art eingedrückten Kugeln aus den 50er Jahren, die schon am Baum meiner Großmutter hingen. Die Wachsmodel von meinem Urgroßonkel. Der weiße Porzellanengel, den meine Mutter mir geschenkt hat vor Jahren im Advent, als es mir damals nicht gut ging. Am Zweig darunter der zinnerne Anhänger, den mir mein Schulfreund gegossen hat. Dort der bunte Papierstern, den meine Tochter mir gebastelt hat, daneben das hölzerne Vögelchen meines Sohnes.

Weihnahten: Bilder werden wach

Kerze für Kerze, Zweig für Zweig: Es ist, als würde ich durch ein alljährlich nur für zwei Wochen ausliegendes Erinnerungsalbum blättern. Bilder werden wach, die Stille atmet meine Geschichte: Das Kind, das ich einmal war; die Menschen, die mir nahe sind; die, die mir nahe waren und schon lange nicht mehr leben, und all das, was für mich Weihnachten ausgemacht hat und ausmacht bis heute.

Ich schaue auf die Krippe unter dem Baum. Ich denke an eine Erzählung von Eleonore von Rotenhan über einen alten verwirrten Mann, dem die Gegenwart zunehmend fremd wird. Seine Lebensgefährtin stellt ihm eine Kiste hin, in ihr: eine Krippe. Er öffnet die Schachtel, nimmt die in Seidenpapier gewickelten Schafe heraus, und auf einmal wirkt sein Gesicht, als ob er träumen würde. Er packt alle Figuren aus und stellt sie sorgfältig auf: den Stall, die Krippe mit dem Kind, den Engel, die Hirten, die Schafe. Immer wieder ordnet er die Figuren neu an. Dann wird er unruhig, signalisiert, dass er weggehen will, und er und die Frau machen sich auf in den nahe gelegenen Wald:

 Er lief vor ihr, ohne sich umzudrehen, und dann plötzlich wandte er sich nach links, vom Weg in das Unterholz, bückte sich und riss zwei große Moosstücke aus der Erde. "Für die Krippe", flüsterte er heiser und schaute sie glücklich an. Er sagte nicht: "Das haben wir immer einen Tag vor Weihnachten mit meinem Vater gemacht", sondern nur: "Das ist doch meine Aufgabe, das Moos für die Krippe zu holen."

Vergangenheit wird Gegenwart: Im Moosholen für die Krippe. Im Anblick des geschmückten Baumes, in dem, was ich tue, was ich höre, was ich singe am Heiligen Abend. Weihnachten: Wie ein Zuhause jenseits der Zeit, ein Zuhause, das nur einmal im Jahr seine Türen öffnet. Ein Zuhause, dessen Zimmer Erinnerungen bergen, die auch dann noch greifbar sind, wenn anderes dem Gedächtnis nicht mehr zugänglich ist.

Weihnachten bedeutet auch eine unvergleichbar größere Erinnerung

Heilige Nacht: Erinnerungen an Vergangenes aus der eigenen Lebensgeschichte sind eingebettet in eine andere, unvergleichbar größere Erinnerung: Die Erinnerung an die Nacht von Bethlehem, diese sonderbare Nacht, in der Gott seine Geschichte mit den Menschen auf seine ganz eigene Weise fortschreibt: zart und irritierend zugleich, wie eine feine Parodie auf unsere menschlichen Vorstellungen von Macht und Gewalt. In ein kleines Kind, in seinen Sohn, legt er alles, was es zu hoffen und zu sehnen gibt, an Frieden, Gerechtigkeit und Liebe, an Heil und Heilung und Trost.

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. Da machte sich auch auf Josef aus Galiläa aus der Stadt Nazareth in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da hieß Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. (Lk 2, 1-24)

Heilige Nacht – das ist die Nacht, die nicht in einem "es war einmal" aufgeht. Es ist die Nacht, in deren Geschichte Menschen seit Jahrhunderten sich und ihr Leben eintragen, jedes Jahr anders, jedes Jahr neu. Und nicht nur Vergangenheit und Gegenwart sind im Geschehen von Bethlehem vereint: Der Gesang der Engel, ihr Lied der Hoffnung und Sehnsucht, dieses Versprechen Gottes, weist zudem in die Zukunft, weist himmelwärts: Was in diesem Kind beginnt, werden wir einmal in Fülle erleben. Einmal wird es sein: Friede auf Erden. Gottes Geschichte mit uns ist noch nicht zu Ende erzählt.

Christmette: Wenn die Stille dieser Nacht wehtut

Heilige Nacht – Gott kommt in der Nacht. Ausgerechnet in der Nacht: Dann, wenn es still wird um uns herum, und wir mit uns selbst allein sind; wenn das Herz dünnhäutig ist, und wir besonders empfänglich sind für Stimmungen, verletzlicher auch.

Ich blicke auf den bunten Christbaumschmuck. Die Heilige Nacht ist eine Nacht, in der mir meine eigene Geschichte auf besondere Weise bewusst wird, und das, was mein Leben ausmacht: Das können Erinnerungen und Gedanken sein, die mich dankbar und glücklich sein lassen. Die Stille dieser sonderbaren Nacht kann aber auch wehtun, weil sich in ihr mein Leben, Hoffen und Sehnen wie in einem Brennglas spiegelt und umso deutlicher zeigt, was verloren ist. Es gibt Jahre, in denen mich der Anblick des geschmückten Baumes schmerzt, weil etwas zerbrochen ist in meinem Leben, weil Menschen, die für mich zu Weihnachten dazugehört haben, gestorben sind. Im Magazin der Süddeutschen Zeitung hat eine Kolumnistin ein solches Weihnachten mit den Worten beschrieben:

Weihnachten ist ein schönes Fest für alle, die glücklich sind. Es ist ein Fest, das die Liebe feiert – egal, ob es um die Liebe Gottes geht oder um das Glück, von Menschen umgeben zu sein, die man liebt. Aber Weihnachten schreit einem auch ins Gesicht, dass man glücklich zu sein hat. Das macht es umso greifbarer, wenn etwas im Leben nicht passt. An vielen Tagen ist es leicht, sich selbst zu belügen und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Weihnachten kratzt den Selbstschutz weg, sodass nur noch der Schmerz bleibt.

Der Mann der Autorin war vor einigen Jahren verstorben. An allen anderen Tagen, so schreibt sie, könne sie sich mittlerweile mit seinem Tod abfinden, aber an Weihnachten, da überschwemme sie die Sehnsucht nach ihm. Sie und ihr Mann hätten das Fest geliebt, da war der liebevolle Wettstreit ihres Mannes, alljährlich den schönsten Baum für sie zu finden, da waren die Momente, nachdem die Kinder ins Bett gegangen waren, und sie die Kerzen ein zweites Mal anzündete, und beide auf dem Sofa saßen und auf die Lichtflecken schauten, die die Kerzen in die Dunkelheit zeichneten. Es seien die schönsten Momente ihrer Ehe gewesen. Seit seinem Tod verbringt sie den Heiligen Abend allein, auch, wenn die Kinder und Enkel sie gerne bei sich hätten. Sie will nicht, dass sie ihre Traurigkeit sehen, sie will ihre Gefühle aber auch zulassen dürfen, sie schreibt: "Denn auch wenn es in diesem Moment traurige Gefühle sind, bedeuten sie nur, dass ich geliebt habe."

In ihrem "Wintersong" singt Sarah McLachlan: So sehe ich dich im Schnee am Weihnachtsmorgen, Liebe und Glück umgeben dich. Ich behalte diesen Moment ganz fest bei mir. Wie sehr vermisse ich dich jetzt. Merry Christmas.

Gott kommt in die Lücken und Brüche 

An Weihnachten wird die eigene Lebensgeschichte wach, und mit ihr Glück und Schmerz, Dankbarkeit und Traurigkeit. Zugleich umgibt uns Weihnachten mit einer Geschichte, die über unser Leben hinausgeht und uns einlädt, uns in ihr zu bergen. Das ist der Trost dieser Nacht.

Der geschmückte Baum vor mir lässt mich an ein Ritual denken, das etwas von diesem besonderen Trost erzählt; Sabine Leibholz-Bonhoeffer, die Schwester des Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer, hat es beschrieben, sie nimmt uns mit in den Dezember 1918, wenige Wochen nach Ende des Ersten Weltkrieges. Im April war ihr Bruder Walter als achtzehnjähriger Fahnenjunker im Westen gefallen. Wie sollte man in diesem Jahr Weihnachten feiern? Dann ist Heiliger Abend. Die Eltern Bonhoeffer gehen ins Weihnachtszimmer und schneiden einen Tannenzweig vom Baum mit einem Licht und Lametta. Den geschmückten Zweig legen sie auf das Walters Grab; Walter war nach Berlin überführt worden. Im Christbaum klafft nun eine Lücke, so, wie auch in ihrem Leben, und der Baum zeigt auf seine Weise, wofür Worte zu klein sind: Dass Gott in die Dunkelheit kommt, in die Lücken und Brüche unseres Lebens.

Weihnachten redet das Leben nicht schön. Die Nacht von Bethlehem ist keine heile Welt, ihre Bilder deuten an, was Menschen durch die Zeiten hinweg erleben und erleiden: Ein verletzliches Kind wird in der Fremde geboren, in der Kälte, in der Dunkelheit, und es sind Frierende, Sehnende und Suchende, die sich an seiner Krippe versammeln. Ich kann in ihre Kleider schlüpfen und meinen Ort in dieser Nacht finden, alle Jahre wieder neu: Einmal sehe ich mich nahe beim Stall, geborgen bei dem Kind - mein Leben ist hell, ich werde geliebt und liebe. In einem anderen Jahr stehe ich hinten, weit weg von der Krippe, auf dem dunklen kalten Feld. Ich stelle mich zwischen die Hirten und trage in die Finsternis ihrer Nacht die Dunkelheiten unserer Tage, meines Lebens ein. Den Glanz des Sterns kann ich allenfalls ahnen, der Gesang der Engel dringt kaum an mein Ohr. Sonderbare Nacht, die mich, so empfinde ich es, dennoch immer wieder bergen kann, auf immer andere Weise.

Die Umarmung der Heiligen Nacht

Der Autor und Musiker Jens Böttcher verwendet für diese Empfindung einer ganz eigenen Weihnachts-Geborgenheit das Wort: Umarmung. Er beschreibt, wie er in seiner Kindheit ein liebevolles Weihnachten erlebt hat, das darin gipfelte, dass die Familie sich still umarmte. Später dann erlebte er, wie alles zerbrach, wofür diese frühen Weihnachtsfeste standen: Die Eltern trennten sich, die Familie bestand nicht mehr, Lebensträume zerplatzten.

Es kommt der erste Heilige Abend, den er allein verbringen muss, ein Weihnachtsgottesdienst im Hamburger Michel soll ihn über die Einsamkeit hinweg retten. Böttcher macht sich auf den Weg, täuscht sich aber in der Anfangszeit des Gottesdienstes und kommt an, als die anderen ihm bereits wieder aus der Kirche entgegenkommen. 

"Ich schwimme gegen den Menschenstrom. Und bleibe wieder allein. Ich finde mich auf einer leeren Bank in dieser weihnachtlich beleuchteten, wundervollen, riesigen Kirche. Es ist fast bizarr. Nur mein eigener Atem ist zu hören. Niemand ist mehr da. Die Welt ist still, die Straßen draußen so leer wie ich. […] Ich sitze allein […] und merke plötzlich, wie durch das Wehen eines leisen Windes, dass ich es doch nicht bin. Aus der Stille dieses Kirchenschiffes, aus der Tiefe meines Herzens, höre ich eine wortlose sanfte Stimme, die aus mir kommt und dennoch nicht aus mir ist. Und obwohl ich noch versuche, mich zu wehren, […] werde ich ruhig.  Die Umarmung. Ich weiß nicht, woher sie gerade kommt, doch sie kehrt zurück. Sie ist stärker als all das Getöse in mir."

Eine Umarmung, so empfindet er es, die ihn verbindet mit all den Menschen, deren Schicksal er heute Abend teilt – mit den Einsamen, den Kranken, den Bitteren, den Sehnsüchtigen, den Weinenden. Die Umarmung der Heiligen Nacht, die größer ist als unsere eigene Geschichte, die die Menschen mit ihren Worten und Bildern umarmt und zugleich über sie hinausweist.   

"[…] die Umarmung: Die Erinnerung, die Sehnsucht, die im besten Falle nicht nur nostalgisch nach hinten, sondern auch hoffnungsvoll nach vorn weist. Der bittersüße Zauber und die Schönheit der Gewissheit, dass es etwas gibt, das uns alle auf ewig verbindet. Etwas, das wir manchmal nur finden, wenn wir auf den Fußboden der Welt hinabsinken und uns dort zu einem Neugeborenen in die Krippe legen, in der aus unser aller Verlorenheit ein unendliches, sprachlos machendes Wunder wird."

Ich blicke auf die Weihnachtskrippe unter dem Baum. Ihr Zentrum ist Christus, ist das Kind, das wird mir jedes Mal neu bewusst, wenn ich die Krippe aufbaue: Zuerst lege ich das Kind hin, dann stelle ich alle Figuren um das Kind herum, die einen näher, die anderen mit etwas Abstand, aber alle ausgerichtet auf das Kind: Das Kind, das sie verbindet, umarmt, so, wie sein Leben und Sterben alle umarmen wird: Die Hirten und die Könige. Die von fern kommen, und die, die von klein auf hier leben. Es umarmt die, denen das Leben tiefe Wunden schlägt, und die, die voller Freude feiern heute Abend. Es verbindet mich mit denen, die ich liebe, und mit denen, die mir fremd sind. Es verbindet mich mit den Lebenden und mit denen, die mir vorausgegangen sind. Das Kind in der Krippe, dessen Verletzlichkeit seine Stärke ist, kennt keine Grenzen, auch nicht die von Raum und Zeit. Es überwindet sie alle, sanft, manchmal kaum spürbar, und doch unaufhaltsam. Und unbegreiflich.

Ich zünde die letzte Kerze am Christbaum an. Vor der Tür wird es unruhig, ich weiß, es wird Zeit: Ich nehme die Glocke und läute, und die Gegenwart drängt freudestrahlend ins Zimmer: Frohe Weihnachten.  

Ich wünsche Ihnen, lieber Hörerinnen und Hörer, ein frohes Weihnachtsfest.