Inspirationen liefert Burkhardt dazu aus seinem Buch »Neuronale Steuerung«, in dem er Prozesse im Gehirn beschreibt, die den Glauben erklären.
Herr Burkhardt, kann man Ihr Buch als eine psychologisch-medizinisch begründete Erörterung ansehen, wie Glauben entstehen kann?
Burkhardt: Man muss verschiedene Ebenen unterscheiden. Eine ist die Psychologie, die hat sich schon sehr lange mit dem Glauben oder Nichtglauben beschäftigt. In den letzten 20 Jahren dazu gekommen sind die Neurowissenschaften. Und die rollen das psychologische Bodenverständnis an vielen Stellen noch mal auf, weil sie einfach mal tiefer blicken, wie das Gehirn funktioniert. Man muss natürlich die Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften irgendwie auch psychologisch deuten und dann das einordnen. Das klassische Beispiel ist der synaptische Spalt, also wo sich zwei Synapsen verbinden. Das sind dann auch die chemischen Prozesse, bei denen vieles Naturwissenschaftliche noch unklar ist. Man kann eben nicht genau sagen, wann nun ein Neuron das andere anregt. Da gibt es noch viele Geheimnisse.
Schon im Vorwort bekennen Sie, die Auseinandersetzung mit der neuronalen Steuerung des Menschen habe Ihnen »Hoffnung« gegeben. Auf was?
Burkhardt: Auf mehrere Punkte, wenn Sie sich die kirchliche gesellschaftliche Landschaft ansehen. Bereiche wie Selbstveränderung oder -verbesserung, das ist ein riesiger Markt, auch ein riesiger Online-Markt mit Motivationstrainern, bei denen man auch gut Geld lassen kann. Hier hat die Kirche fast nichts zu bieten. Und meine Hoffnung ist, dass wir als Kirche durch das Hineinnehmen der Neurowissenschaften in die Theologie darstellen können, dass wir es genauso gut können wie die anderen. Oder vielleicht sogar besser oder mehr zu bieten haben.
Maiwald: Die Kirche hat immer Anleihen bei aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen genommen, von der griechischen Philosophie bis zu Anleihen bei der Psychologie im 20. Jahrhundert. Es ist nichts Neues, dass man sich mit gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzt. Nur im Bereich der universitären Theologie passiert nicht viel. Unsere Professoren bleiben meist bei ihren Steckenpferden und arbeiten weniger fächerübergreifend.
Sie sprechen zudem von einer Kehrtwende als geistiger Prozess, mit dem die Kirchen auch aus ihrer Krise kommen könnten. Auf was sollten Menschen im kirchlichen Dienst ihren Fokus legen, wie diesen Prozess kommunizieren?
Burkhardt: Ich gehe mal auf Martin Luther zurück, erste These von den 95, in der es heißt, dass unser Leben eine fortwährende Buße sein soll. Wenn auch wir Menschen im kirchlichen Dienst nicht unser eigenes Tun immer wieder diesem Umdenkungsprozess unterwerfen und uns nicht fragen, ob da vielleicht Dinge sind, die wir schon seit Jahren oder Jahrhunderten falsch machen, dann werden wir nicht weiterkommen. Es gibt ja auch in der Management-Literatur einige Autoren, die davon schreiben, wie sie ihr Unternehmen an die Wand gefahren haben, also gescheitert sind. Die dann noch mal ganz von vorne anfangen und eine ganz neue Geschäftsidee entwerfen. Warum soll es uns besser gehen als manchen Unternehmern? Wir haben als Kirche jahrhundertelang von einem tollen Geschäftsmodell profitiert. Das scheint aber nicht mehr so zu funktionieren.
Maiwald: Unsere Erkenntnis vor allem nach Corona ist, dass die Zahl der traditionellen Gottesdienstbesucher immer mehr am Abnehmen ist. Wir versuchen mit dieser offenen Form zu sagen: »Hier habt ihr eine Herberge im Gottesdienst, wo eure Frömmigkeit oder eure Seele vielleicht Herberge findet, um für den Alltag Kraft zu tanken.« Wir wollen mit einer wenig dogmatisch aufgeladenen Sprache den Leuten die Güte und die Gnade Gottes nahebringen. Obwohl ich jetzt schon wieder dogmatische Begriffe hernehme ...
Ihre Predigtreihe »Seelenherberge live« zielt auf »miteinander wachsen« ab. Was erwartet die Besucherinnen und Besucher?
Burkhardt: Wir haben in St. Jakob tatsächlich eine Pilgerherberge, und Pilgern ist auch unsere geschichtliche Tradition sein circa dem Jahr 800. Deswegen haben wir uns für diesen Begriff der Herberge inspirieren lassen. Der Gedanke ist aber, dass eben nicht nur Leute nach Santiago pilgern, sondern das ganze Leben ist eine Pilgerreise von der Geburt bis zum Tod. Und es ist auf dieser Lebensreise gut, eine Herberge zu finden. Einen Ort, wo die Seele neue Orientierung bekommt und wieder weiterwandern kann. Wir wollen die Leute aber nicht festhalten, sondern sagen: »Ihr kommt zu uns, ihr nehmt das mit, was ihr braucht, aber ihr geht dann eigenverantwortlich euren Weg weiter.« Man kommt zusammen. Man tauscht sich über ein Thema aus. Man teilt miteinander das, was man im Leben erlebt hat. Es wird natürlich schon irgendwie am Anfang etwas gottesdienstlich sein, aber es soll dann am Schluss eben übergehen in ein Miteinander-Essen und einen Austausch über das, was einem wichtig ist. Es wird die Möglichkeit geben, sich persönlich segnen zu lassen. Es wird auch Gelegenheit für Einzelgespräche geben, wahrscheinlich auch mit Körperübungen, aber auch Momente, in denen man für sich meditieren kann. Aber das müssen wir auch ein bisschen auf uns zukommen lassen. Es ist bewusst eine offene Form.
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