"Mein Bruder" beginnt mit dem Besuch der Erzählerin im Holberton Hospital auf Antigua in den 1990er Jahren. Ihr Bruder Devon ist an AIDS erkrankt, von den Ärzten bereits abgeschrieben und lebt isoliert. Doch er lebt, und seine Schwester kommt aus dem entfernten New York, um ihn zu besuchen, obwohl sie sich seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben. Als Devon geboren wurde, war die Erzählerin 13 Jahre alt. Nach seinem dritten Geburtstag verließ sie das Land.
Devon selbst ist charmant und selbstsüchtig. In den Worten der Erzählerin schwingt mit, er sei "ein Produkt seiner Umgebung und seiner Armut", denn sie beschreibt Antigua vielfach als moralisch und emotional starr, an einer alten Ordnung klebend, mit Schulbüchern, die die Geschichte der britischen Kolonialmacht, nicht aber die der Karibikinsel, beschreiben, und gegenüber HIV/AIDS voreingenommen und ignorant. Die Welt, der sie entflohen war, hat sich wenig verändert: die vordergründige Leichtigkeit der Karibik ebenso wie Machismo, Armut und Doppelmoral.
Starke, aber kaltherzige Mutter
Die gemeinsame Mutter ist stark, aber kaltherzig. Sie hat sich mit verschiedenen Männern durchgeschlagen, sich ein kleines Haus mit Garten erhalten und lebt mit ihren Söhnen auf einem Grundstück. Einer ihrer Söhne liegt aktuell im Krankenhaus. Gegenüber ihrer Tochter war sie tyrannisch. Sie nahm sie kurz vor dem Schulabschluss von der Schule, verbrannte ihre wenigen Bücher, isolierte sie von einem seelenverwandten Nachbarsjungen und verbreitete die Geschichte, wenn sie ihre Tochter nicht streng genug erziehen würde, bekäme diese zweifellos zehn Kinder von zehn verschiedenen Männern. Das familiäre Gefüge ist zerrüttet, und doch sind alle unausweichlich miteinander verbunden.
Die Erzählerin selbst ist in die USA ausgewandert, hat eine Karriere als Journalistin und Autorin gemacht und eine eigene Familie gegründet. Nun muss sie jedoch in die alte Heimat zurückkehren, um Hilfe und Pflege für ihren Bruder zu organisieren, bei dem sie sich nicht sicher ist, ob sie ihn liebt oder hasst. Denn vieles an ihrem jüngsten Bruder, der einmal Musiker werden wollte, sich dann aber dem Müßiggang, dem Kiffen, Trinken und "Verführen” hingab, erträgt sie nicht.
"Mein Bruder" springt zwischen persönlichen Erinnerungen, medizinischen Beobachtungen und politischen Betrachtungen hin und her. Dabei reflektiert Kincaid das postkoloniale Erbe Antiguas, seine Armut sowie den individuellen und gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit und Religion. Die AIDS-Erkrankung fungiert dabei als Metapher.
Am Ende kann die Erzählerin Medikamente aus den Vereinigten Staaten organisieren, die die Symptome der Krankheit für einen Moment lindern und das Leben ihres Bruders verlängern. Wirklich nah kommt sie ihm jedoch nicht. Für ein "Was wäre aus ihm geworden, wenn er wie ich die Insel verlassen hätte?" ist es zu spät. Heilung, Rettung und Aussöhnung sind nicht mehr möglich.
Erst einige Monate später und nur durch Zufall erfährt die Schwester das letzte Geheimnis ihres Bruders durch eine Bekannte in den Vereinigten Staaten. Ein Geheimnis, das ihn und die Zwänge, denen er auf Antigua unterlag, erklärt.
Eine wichtige Stimme der Karibik
Jamaica Kincaid wurde 1949 geboren und lebt heute in Vermont. Im Alter von 17 Jahren kam sie nach New York, um dort als Au-pair-Mädchen zu arbeiten. Anschließend studierte sie Fotografie und begann, sich schriftstellerisch zu betätigen. Mittlerweile hat sie mehrere Romane veröffentlicht und lehrt am Claremont McKenna College sowie als Gastdozentin an der Harvard University. Sie gehört zu einer Generation postkolonialer Autorinnen, die persönliche Narrative untrennbar mit Fragen von Herkunft, Macht und Identität verknüpfen. Vergleichbar ist sie etwa mit Tsitsi Dangarembga aus Simbabwe oder Toni Morrison. "Mein Bruder” ist ein wichtiger Beitrag aus einer Region, die in der Literatur viel zu selten sichtbar wird.
Kincaids Stil ist dabei introspektiv und essayistisch. "Mein Bruder” ist trotz der bewegenden Geschichte um ihre Familie von einem nüchternen, fast lakonischen Ton durchzogen, der sich mit Momenten intensiver emotionaler Offenheit abwechselt. Der Stil ist rhythmisch, poetisch und doch genau, mit Wiederholungen, fragmentarischen Gedanken und elliptischen Sätzen, die sich bewusst gegen eine dramatische Zuspitzung stellen. So oszilliert der Roman zwischen Distanz und Nähe, Kälte und Empathie und erzeugt dadurch eine ungeheure Authentizität. Ein kraftvolles Werk – wichtig, unbequem und zutiefst menschlich.
Jamaica Kincaid (1997): Mein Bruder, 240 Seiten, Aki Verlag, 22 Euro.
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