Erziehung zur Erkenntnis: Der Philosoph Peter Sloterdijk wird 70 Jahre alt

 

»Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung«

 

Peter Sloterdijk gilt als Intellektueller mit einer unerschöpflichen Fantasie: Mit seinen fast 100 Büchern habe er »eine Erziehung zur Erkenntnis geleistet«, würdigt der Leiter des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medien, Peter Weibel, das Schaffen des Intellektuellen. Am 26. Juni wurde der bekannte philosophische Querdenker 70 Jahre alt.

1983 feierte er mit dem Werk »Kritik der zynischen Vernunft« seinen Durchbruch. Kein anderes philosophisches Werk des 20. Jahrhunderts soll häufiger über den Ladentisch gegangen sein. Später geriet er mit seinen Äußerungen zum Steuersystem und zur Flüchtlingspolitik in die Kritik.

Der einstige Rektor der Karlsruher Hochschule für Gestaltung, Philosophie und Ästhetik ist vom Ruhestand weit entfernt. Der Terminkalender auf seiner Homepage listet zahlreiche Vorträge, Reden und Preisverleihungen auf: Im März sprach der Philosoph mit der ARD über den »Oligarchen Trump«. Im Mai eröffnete er die Ausstellung »Luther und die Avantgarde« in Berlin, am 13. Juni erschien sein neues Buch »Nach Gott – Glaubens- und Unglaubensversuche«.

So bleibt Sloterdijk im öffentlichen Gespräch. Mit seinem graublonden Schnauzer, der tief sitzenden Brille und den zerzausten Haaren wirkt er wie das wahr gewordene Klischee des umtriebigen, aber zerstreuten Professors.

Der in Karlsruhe geborene Gelehrte lebt mit seiner Partnerin abwechselnd in seiner Geburtsstadt und in der Provence. Seine deutsche Mutter hatte seinen niederländischen Vater, einen Seefahrer, in den Nachkriegswirren kennengelernt. Die Ehe der Eltern hielt aber nicht lange. Sloterdijk empfand sich daher als ein »von der Vaterseite her so gut wie völlig ungeprägter junger Mann, der wie so viele seiner Generation mit dem starken Gefühl einer kulturellen Unsicherheit aufwuchs«, wie er einmal in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt sagte.

Seine Lösung dieses Problems bestand nach eigener Aussage darin, sich selbst die Welt zu erklären – wodurch er sich den Weg zur Philosophie erschloss. Es folgte ein geisteswissenschaftliches Studium in München und Hamburg. Nach Beendigung seiner Dissertation lebte Sloterdijk einige Zeit in Indien. Dort betrieb er in einem Ashram, einem klosterähnlichen Meditationszentrum, eine »Osterweiterung der Vernunft, ohne die seine Schriftstellerei nicht zu denken sei«.

Die taz schreibt über diesen Auslandsaufenthalt, dass »die dort erworbene Bejahung der Körperlichkeit und sexuellen, in der Promiskuität ausgelebten Triebe zu einer Philosophie führten, die nicht länger vom Todesgedanken beherrscht war, sondern geburtliche Lebenspraxis propagierte«. Nach seiner Rückkehr, mit 36 Jahren, verfasste Sloterdijk in weniger als zwölf Monaten sein fast 1000-seitiges Debütwerk »Kritik der zynischen Vernunft«.

Spätestens mit der Moderation der ZDF-Sendung »Das Philosophische Quartett« von 2001 bis 2015 wurde Sloterdijk ein berühmter Intellektueller. Eine erste heftige öffentliche Debatte hatte er schon 1999 losgetreten. In dem Buch »Regeln für den Menschenpark« schrieb der Kulturwissenschaftler über die Anwendung von Gentechnik und pränatale Diagnostik. Kritiker, darunter der Spiegel, nannten ihn einen »Züchter des Übermenschen«.

2009 veröffentlichte Sloterdijk in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Artikel mit dem Titel »Die Revolution der gebenden Hand«. Darin schreibt er, dass der heutige Staat sich im vergangenen Jahrhundert zu einem »geldsaugenden Ungeheuer von beispiellosen Dimensionen ausformte«. Er schlug vor, das Steuersystem in Richtung freiwillig gebender Spender zu reformieren. Damit löste er heftigen Widerspruch aus, es folgten Schlagzeilen wie »Fataler Tiefsinn aus Karlsruhe«. Im selben Jahr erschien auch das Essay »Du musst dein Leben ändern« – ein Plädoyer dafür, stets an sich selbst zu arbeiten: zur Verbesserung des eigenen Lebens, aber auch der gesamten Welt.

Für Empörung sorgten seine Aussagen zur Migrations- und Flüchtlingspolitik im Sommer 2015. Sloterdijk kritisierte die Regierung mit den Worten, es gebe »keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung«. Die Berichterstattung der Medien bezeichnete er als »Lügenäther, der so dicht sei wie seit den Tagen des Kalten Krieges nicht mehr«.

Zwischen Sloterdijk und dem Philosophen Jürgen Habermas besteht eine langjährige erbitterte Feindschaft. Auf die Frage, ob es zwischen ihm und Habermas jemals eine Versöhnung geben könnte, sagte Sloterdijk einmal: »Wenn Putins Truppen den Rhein erreichen und wir gemeinsam eine Erklärung der Intellektuellen über die Rückkehr zu nicht militärischen Lösungen signieren sollten, dann würde ich meinen Namen neben den seinen setzen.«

Sloterdijk bleibt wohl weiterhin streitbar und dickköpfig.

 

 

»Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung«: Peter Sloterdijk provozierte mit seinen Thesen zur Migrationspolitik.Foto: CC BY-SA 2.0 Fronteiras do Pensamento