Wohl das erste Mal in der Geschichte einer Bundestagswahl verschieben Parteien so gezielt finanzielle Ressourcen von der Straße ins Internet. "Wir sehen online einen sehr professionellen Wahlkampf und das von allen Parteien", sagt Andreas Jungherr. Der Wissenschaftler von der Universität Konstanz untersucht Online-Kampagnen von Parteien.
Eine mögliche Strategie im Internet-Wahlkampf ist das sogenannte Mikrotargeting: Facebook und andere soziale Netzwerke bieten Unternehmen oder Parteien an, (Wahl-)Werbung passgenau für bestimmte Zielgruppen zuzuschneiden. Eine 36-jährige Frau, die in einer Großstadt lebt, verheiratet ist und ein Kind hat, könnte also eine andere Wahlwerbung in ihrem Facebook-Stream zu sehen bekommen als ein Mann um die 50, der aus einer bayerischen Kleinstadt mit niedriger Arbeitslosenquote kommt.
Internet-Wahlkampf mit Mikrotargeting
Dazu sammelt Facebook Daten. Zum einen jene, die ein Nutzer freiwillig von sich preisgibt: Alter, Ethnie, sexuelle Orientierung, Religion. Aber auch was er liked, seine Browsing-Daten oder Informationen aus Interaktionen zwischen Nutzern. Erst kürzlich verhängte deshalb die spanische Datenschutzbehörde eine Geldstrafe von 1,2 Millionen Euro gegen das Unternehmen: Facebook verwende die persönlichen Daten zu Werbezwecken ohne die Nutzer explizit darüber aufzuklären und ihre Zustimmung abzufragen.
Praktisch alle Parteien setzten vor der Bundestagswahl am 24. September auf Anzeigen bei Facebook und Google. "Das ist state of the art", sagt Jungherr. Obama nutzte die Strategie 2008 wohl als erster für seinen Wahlkampf, Trump dann 2016: Ihr Erfolg inspirierte auch deutsche Parteien.
Datenschützer: Politiker legitimieren Modelle
Die Datenschützer vom Blog "netzpolitik.org" beobachten die neue Entwicklung mit Sorge: "Indem die Parteien das umstrittene Geschäftsmodell von Facebook nutzen, legitimieren sie es", kritisiert Ingo Dachwitz. "Die Frage ist: Können Wähler durchschauen, dass sie gerade eine Anzeige sehen, die speziell auf sie zugeschnitten ist?" Durch die stark individualisierten und personalisierten Anzeigen habe die Öffentlichkeit keinen Überblick und keine Kontrolle über den Wahlkampf und dessen Botschaften. Man habe es zunehmend mit einer "Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit" zu tun.
Verschärft werde das Phänomen, wenn sogenannte Dark Posts, sogenannte unveröffentlichte Beiträge, zum Einsatz kämen. Ein Dark Post sieht zwar wie ein normaler Beitrag aus, er wird aber nicht im regulären Newsfeed ausgespielt. Auch ist er nicht auf offiziellen der Facebook-Seite der Partei zu sehen. "Wir wollen keine Republik, in der linke Kräfte und der Multikulturalismus die Vorherrschaft haben", warb die CSU im Frühjahr 2017 ausschließlich auf Russisch, berichtete "Zeit Online". Die Anzeige bekam nur derjenige zu sehen, der der CSU und dem russischen Fernsehsender RT folgte. RT gilt als Propaganda-Kanal, der neben seriösen Meldungen auch Fake News veröffentlicht. Auf der offiziellen CSU-Facebook-Seite war die Anzeige hingegen nicht zu sehen.
Demokratische Diskurs bei Bundestagswahl verkommt zur Massenbeschallung
"Der moderne demokratische Diskurs kann keine monothematische Massenbeschallung sein", sagt Simon Rehak, CSU-Pressesprecher. Die Menschen erwarteten zu recht, dass sich die Politik um ihre Anliegen kümmert. Das erfordere "zwangsläufig auch eine passgenaue Ansprache. Das ist uns Aufgabe und Verpflichtung zugleich."
Wer welche Werbung wann zu sehen bekommt, kann jetzt eine Browser-Erweiterung herausfinden: Die Datenjournalisten von "ProPublica" aus New York haben das Plugin "Political Ad Collector" (Chrome) entwickelt, das (Wahl-)Werbung aus dem persönlichen Facebook-Feed filtert. Zusammen mit der Süddeutschen Zeitung, Tagesschau.de und Spiegel online wollen sie den Datensatz personalisierter Wahlkampfwerbung auswerten.
Wirkung von Facebook-Anzeigen ist begrenzt
Jungherr schätzt die Wirkmacht von politischen Facebook-Anzeigen als begrenzt ein. "Die deutschen datenschutzrechtlichen Bestimmungen sind so eng gefasst, dass deutsche Parteien mit einer unzuverlässigen und rechtlich eingeschränkten Datenlage operieren." Mikrotargeting könne Unentschlossene dazu bringen, zur Wahl zu gehen - für die Überzeugung von Inhalten brauche es jedoch in der Regel mehr.
Soweit die Theorie. Die Praxis hat Tobias Nehren, Leiter digitale Kampagnen der SPD (Facebook) vor Augen. Vor allem die letzten 72 Stunden vor der Wahl seien spannend. "Im Netz können wir agiler bis zum Schluss Botschaften anpassen und auf aktuelle Geschehnisse."
Und auch für die FDP (Facebook der FDP) spielen gerade die letzten Tage eine entscheidende Rolle:"Das meiste Geld setzen wir im Endspurt ein", sagt Nils Droste, Pressesprecher der FDP. Die Menschen würden sich immer später entscheiden, wen sie wählen. Online könne man bis zuletzt versuchen, Wähler zu mobilisieren. "Wir sehen das als eine große Chance für die FDP."
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