Man kann eigentlich nicht behaupten, dass meine Brüder und ich keinen Spaß hatten, als wir als Kinder mit meinen Eltern in die Kirche gingen. Der Pfarrer musste nur ein lustiges Wort sagen oder wir verstanden eines seiner Worte mit Absicht falsch, ein Opi hinter uns musste sich nur einmal versingen und wir bekamen Lachkrämpfe. Außerdem gab es immer die Möglichkeit den graugrünen Lack von den Bänken abzukratzen. Da, wo meine Familie immer saß, ist heute ein Loch im Lack. Sorry, Auferstehungskirche. Singen fand ich immer super, beten – von mir aus. Nur während der langen Predigten, da langweilten wir uns oft.
Kirche wie Indianerzelt
Einmal sagte mein Bruder: »Wenn ich eine Kirche bauen würde, dann wäre sie rund und die Leute säßen bequem.« In der Auferstehungskirche saß man immer sehr unbequem und ich glaube, das war auch so gedacht. »Und jeder darf mitreden«; sagte mein Bruder weiter, »den Pfarrer unterbrechen, erzählen.« Ich schloss mich der Meinung meines großen Bruders an. Das tat ich meistens, aber bei der Sache mit der runden Kirche und dem Dazwischenreden, da war ich wirklich überzeugt. Oft verstand ich nicht mal, was der Pfarrer oder die Pfarrerin da redete, auch wenn ich aufmerksam zuhörte.
Heute war ich in einem lutherischen Gottesdienst, der meinem Bruder gefallen hätte. Und mir hat er auch gefallen. In Belém, im Amazonasgebiet, fand er statt. In einer kleinen Kirche, die einem Indianerzelt nachempfunden ist. Die Gemeinde trudelte ein, mal ging einer, dann kam er wieder. Es wurde gesungen, geredet, aus der Bibel gelesen und gepredigt– aber als Angebot zum Gespräch. Die Lieder waren nicht von Luther und Bach, sondern selbst komponiert. Sie haben etwas mit der Realität der Menschen vor Ort zu tun und wurden nicht importiert. Eines ging so:
»Refrain: Es kommt ein neuer Tag, ein neuer Himmel, eine neue Erde, ein neues Meer. Und an diesem Tag werden die Unterdrückten mit einer gemeinsamen Stimme von der Freiheit singen.
1. Strophe: Auf der neuen Erde ist der Schwarze nicht angekettet, die Indianer werden wie Menschen behandelt. Auf der neuen Erde werden der Schwarze, der Indianer, der Mulatte und der Weiße vom gleichen Teller essen.
Refrain
2. Strophe: Auf der neuen Erde wird die Frau Rechte haben. Sie wird nicht erniedrigt und verurteilt. Alle werden ihre Arbeit wertschätzen, sie wird an den Entscheidungen teilhaben.
Refrain
3. Strophe: Die Schwarzen, die Mehrheit dieses Landes, warten noch immer auf die Abschaffung der Sklaverei. Die neue Erde wird von ihnen, den Unbesiegten, erobert werden.«
Im Gegensatz zu den lutherischen Gemeinden im Süden des Landes ist Deutschland hier in Belém ziemlich egal, was ich sehr angenehm finde. Zwar wurde die Gemeinde von einer deutschen Pfarrerin gegründet, heute aber kommen alle möglichen Leute hierher, viele mit indigenen Wurzeln. Kaum einer ist von Geburt an evangelisch. Die meisten hat das politische und soziale Engagement angezogen. Die Kirche in Belém mitten im Leben der Menschen, mitten in ihren Kämpfen.
Gestern Abend übernachtete eine Gruppe Ka’apor-Indianer dort. Schnell wurden ein paar Matratzen in den runden Raum geworfen, zum Glück hatten manche auch Hängematten dabei. Die Ka’apor kämpfen seit Jahren gegen die Holzmafia, die in ihrem Gebiet nicht nur rodet und damit Lebensraum zerstört, sondern auch mordet – 2015 wurde ein Anführer der Ka’apor erschossen, viele andere einfach überfahren. Diese Morde werden nicht aufgeklärt, vielmehr werden die verfolgt, die für die Aufklärung kämpfen.
Indianer werden diskriminiert
Ein paar Stunden konnte die Gruppe in der Kirche schlafen, dann flogen sie nach Brasília, um dort mit Abgeordneten über die Probleme in ihrem Territorium zu reden: die Holzmafia und die fehlende gesundheitliche Versorgung. Wenn es einem von den 1.800 Ka’apor nicht gut geht, muss er per Anhalter zur Krankenstation fahren. Dort wird er nur schlecht versorgt, »weil sie denken: Indianern kann man ja alles geben“, sagt José Andarade, ein Anthropologe der die Gruppe begleitet und wegen seines Kampfes für ihre Rechte beinahe im Gefängnis landete. »Und am Wochenende gehen die Ärzte einfach nach Hause und lassen die Kranken allein«, sagt Itahu Ka’apor, einer aus der Gruppe. »Es ist ihnen egal, ob jemand stirbt, sie gehen auch nicht ans Telefon.«
Pfarrer und Philosophieprofessor António Carlos Teles beherbergt und unterstützt, auch eine Gruppe des Movimento sem terra, der Bewegung der Landlosen, hat hier schon übernachtet.
Nebenan, im kleinen Gemeindezentrum lebt gerade eine Dänin mit ihren drei kleinen Kindern. Sie ist vor eineinhalb Jahren vor ihrem gewalttätigen Mann aus Dänemark nach Brasilien geflohen, sagt sie, und hielt sich seitdem versteckt. Vor kurzem ist sie aufgeflogen, im Fernsehen liefen viele Berichte über sie. Die Gemeinde in Belém gewährt ihr jetzt Unterschlupf.
Im Gottesdienst wurde über all das gesprochen. »Die Indianer sind die ältesten Brasilianer, sie sind die Wurzeln unserer Kultur und schaut, wie sie behandelt werden«, sagt eine Frau. Eine andere fragt, was die Dänin und ihrer Kinder gebrauchen könnten. Bei den Fürbitten erzählen viele von Kranken in ihrer Familie und beten für sie, ein anderer bedankt sich, dass es seiner Mutter schon besser gehe.
Kinder durften rumlaufen
Während es draußen immer weiter regnet, geht drinnen das Gespräch weiter. Dann die beste Nachricht in letzter Zeit: Die Kirche hat einen Kredit für ein neues Auto bekommen, die Arbeit mit Kindern in den entlegenen Gebieten kann also weiter gehen.
Die Kinder, die da waren, haben sich, glaube ich, auch gelangweilt. Aber nicht so wie ich und meine Brüder früher. Sie durften sich bewegen, sie bekamen Stifte zu malen. Und wenn sie alt genug sind, um dem Gespräch zu folgen, werden sie verstehen, dass es um sie geht.