Gott war im Weltbild C.G. Jungs der Übermächtige, fern und nah zugleich, Furcht einflößend und Vertrauen erweckend, der Geheimnisvolle - von Jung als "Numinosum" bezeichnet. Dass Gott immer mehr aus dem Blickfeld des Menschen verschwand, überraschte Carl Gustav Jung nicht. Schon als Kind war ihm aufgefallen, dass sich der Glaube bei den meisten Menschen nur noch im Kopf abspielte, im bloßen Für-wahr-Halten von religiösen Überzeugungen. Das Herz blieb unbeteiligt. Den Ausweg aus diesem Dilemma sah Jung in seiner analytischen Psychologie. Sie sollte die unmittelbare Sinnerfahrung an die Stelle des toten Dogmas setzen.

Im schweizerischen Kesswil kommt Carl Gustav Jung am 26. Juli 1875 zur Welt, doch den größten Teil seiner Kindheit und Jugend verbringt er in der Nähe von Basel. Jungs Vater, ein evangelisch-reformierter Pfarrer, ist ein depressiver, kraftloser Mann. Mühsam versucht er, seine Glaubenszweifel unter dem Mantel der Frömmigkeit zu unterdrücken. Dem unbestechlichen Blick seines Sohnes bleibt diese Heuchelei jedoch nicht verborgen. Die Gestalt des "Herrn Jesus", von dem in seinem frömmelnden Elternhaus ständig die Rede ist, wird Carl Gustav zeitlebens suspekt bleiben. Ein ganz anderes Verhältnis entwickelt er zu Gott, der für ihn "eine der allersichersten, unmittelbaren Erfahrungen" ist.

Carl Gustav Jung: Sohn und stiller Beobachter

Carl Gustav wächst als Einzelkind auf. Erst neun Jahre später kommt seine Schwester zur Welt. Der introvertierte Junge fühlt sich allein, unbehaust und ungeborgen. Er hat das deutliche Gefühl, zwei Seelen in seinem Körper zu beherbergen. Er bezeichnet sie als "Nr. 1" und "Nr. 2". Nr. 1 ist der Carl Gustav, der als Sohn seiner Eltern zur Schule geht und sich bemüht, den Anforderungen des Lebens gerecht zu werden. Nr. 2 empfindet er als den weitaus älteren Teil seiner Persönlichkeit - eine Art stiller Beobachter, der nicht wertet, sondern einfach nur präsent ist. Jung glaubt, in Nr. 2 den direkten Zugang zu Gott zu haben. Einige Jahre später wird er behaupten, dass jeder Mensch eine ewige und eine zeitliche Gestalt in sich trägt, das unbewusste Selbst und das bewusste Ich.

Nach dem Abitur schreibt sich Carl Gustav Jung an der medizinischen Fakultät der Universität Basel ein. Mit Vorliebe widmet er sich parapsychologischen Phänomenen: Er liest alles, was er dazu finden kann, und muss sein Interesse an diesem Thema anderen gegenüber heftig verteidigen. Jung findet, man könne nicht etwas als Unsinn ablehnen, nur weil man nicht viel darüber wisse. Auch das Unwahrscheinliche sei Teil der großen Wirklichkeit und habe einen berechtigten Platz in unserem Weltbild verdient. Deshalb nimmt Jung auch an spiritistischen Sitzungen teil. Seine fünfzehnjährige Cousine Helly fungiert dabei als Medium. Die gewonnenen Erkenntnisse macht Jung zum Thema seiner Dissertation. Sie trägt den Titel "Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene".

Therapie auf dem Fußboden

Im Dezember 1900 erhält Jung im "Burghölzli", der psychiatrischen Klinik der Universität Zürich, eine Assistentenstelle. Sein Chef, Eugen Bleuler, ist ein Anhänger der noch jungen Psychoanalyse. Er ist beeindruckt von Jungs Arbeitseifer und macht ihn mit dem Gedankengut Sigmund Freuds vertraut. Dessen soeben erschienene "Traumdeutung" erregt Jungs Interesse. 1907 kommt es zu einer ersten persönlichen Begegnung zwischen den beiden Tiefenpsychologen. Freud, der Nervenarzt, hofft, in dem Psychiater Jung einen Verbündeten zu finden, der sein geistiges Erbe antreten und seinen Ideen zum Durchbruch verhelfen kann. Jung seinerseits bewundert den um 19 Jahre Älteren und sieht in ihm einen Lehrer, wenn nicht gar einen Vater, dem er viel verdankt. Es irritiert Jung allerdings, dass Freud alles auf das Sexuelle reduziert. Freud scheint ihm wie besessen von seiner Sexualtheorie.

In Küsnacht eröffnet Jung eine eigene Praxis. Dort findet sich im Laufe der Zeit eine internationale Klientel ein, zu der auch Edith Rockefeller, Hermann Hesse und James Joyce gehören. Anders als Freud, der bei der Analyse steif am Kopfende seiner orientalischen Couch sitzen bleibt, spaziert Jung mit seinen Patienten im Garten seiner Villa umher. Allerdings gibt er sich im Umgang mit der illustren Gesellschaft keineswegs devot. Einer amerikanischen Millionärin verbietet er, im Rolls-Royce zur Therapie vorzufahren. Eine andere schwerreiche Klientin lässt er stets auf dem Fußboden Platz nehmen. Keine Frage: Jungs Therapie unterscheidet sich gründlich von der damals üblichen Behandlung psychisch Kranker. Seine Patienten spüren, dass Jung ihre Träume und Psychosen ernst nimmt.

Ein "kollektives Unbewusstes"?

Die Unstimmigkeiten zwischen Jung und Freud verstärken sich in den folgenden Jahren, als Jung seine Vorstellung vom Unbewussten entwickelt. Einig sind sich die beiden Männer darin, dass es ein persönliches Unbewusstes gibt, das alle Erfahrungen des Menschen speichert. Doch Jung glaubt, dass es darüber hinaus noch ein kollektives Unbewusstes geben muss. Seiner Ansicht nach handelt es sich dabei um das "psychische Erbe", mit dem jeder Mensch ausgestattet ist, sobald er auf die Welt kommt. Das kollektive Unbewusste drücke sich durch Symbole und Urbilder aus, die Jung als Archetypen bezeichnet. Ohne dass der Mensch sie wahrnehme, prägten sie die Beziehungen und beeinflussten die Verhaltensweisen des Einzelnen. Diese Archetypen erscheinen Jung zufolge unabhängig von Religion, Nationalität und geschichtlicher Epoche.

Die unterschiedlichen Lehrmeinungen führen schließlich zum Bruch zwischen Jung und Freud. Jung sieht sich nun vor die schwierige Aufgabe gestellt, sich außerhalb Freuds zu positionieren. Die Trennung stürzt ihn in eine geistig-seelische Krise. Sie ist der Beginn dessen, was Jung als seine "Nachtmeerfahrt" bezeichnen wird: Jung versucht, in die "unauslotbare Tiefe" seiner Seele hinabzusteigen. Um mit seiner eigenen Unterwelt in Kontakt treten zu können, entwickelt er eine Technik, die es ihm erlaubt, Träume, Visionen und Fantasien jederzeit aktiv hervorzurufen. Die so gesammelten Erfahrungen sind das Material für seine Theorie, mit der Jung die Psychologie um eine neue Dimension erweitert. Herzstück seiner Lehre ist der "Individuationsprozess", die "Selbstwerdung". Jung fordert: Der Mensch muss zu dem werden, was er ist oder besser gesagt: was er sein sollte.

Jung: "Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang"

Wie keinem anderen gelang Jung der schwierige Spagat, Religion und Psychoanalyse zu verbinden. Nicht nur Psychologen, auch Theologen sahen in der raunenden Gedankenwelt Jungs einen Heilsweg und die Chance zum Aufbruch in ein neues, unbekanntes Land. Viele Seelsorger, darunter auch Adolf Köberle und Paul Tillich, begannen, die Bibel neu zu lesen und tiefenpsychologisch zu deuten. Mancher bekam es mit der Kirchenleitung zu tun, wenn er Jungs Konzept praktisch erprobte. Was nicht nur an Jungs Gottesbild, sondern auch an dessen Relativierung des Bösen lag: Was in der klassischen Seelsorge bisher als Schuld und Sünde galt, löste sich unter dem Einfluss von C. G. Jung zum "Schatten" auf, einem der wichtigsten Archetypen.

Der Schatten ist Jung zufolge die unbewusste Seite unserer Persönlichkeit, die wir selbst ablehnen. Oft gelinge es uns, unseren Schatten zu ignorieren, doch entwickele er eine kraftvolle Eigendynamik. Jungs Therapie zielt deshalb darauf ab, "Ja zum eigenen Schatten" zu sagen und ihn in die bewusste Persönlichkeit zu integrieren. Dies, so Jung, erfordere Mut, bedeute aber einen seelischen Fortschritt.

Als Carl Gustav Jung am 6. Juni 1961 im schweizerischen Küsnacht starb, war er davon überzeugt, den Individuationsprozess für sich selbst vollzogen zu haben. Als Grabinschrift wählte er das Motto, das er auch über den Eingang seines Hauses in Küsnacht meißeln ließ: "Gerufen und ungerufen - Gott wird da sein". Jung ging es dabei nicht um ein christliches Bekenntnis, sondern um den spirituellen Aspekt schlechthin: "Es ist ein delphisches Orakel und besagt: Ja, Gott wird zur Stelle sein, aber in welcher Gestalt und in welcher Absicht? Ich setzte die Inschrift, um meine Patienten und mich daran zu erinnern: 'Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang.'"