Letzte Woche habe ich die Netflix-Miniserie Adolescence gesehen – und war zugleich beeindruckt und ernüchtert. In nur vier etwa einstündigen Episoden nimmt sich die Serie großer Themen an: Misogynie, Incel-Kultur, Mobbing. Slles gesellschaftliche Brennpunkte, über die es, wie ich finde, noch immer zu wenig differenzierte Aufklärung gibt.

Dabei geht Adolescence formal neue Wege: Jede Folge ist in einem eindrucksvollen One-Shot-Stil inszeniert und beleuchtet das Geschehen aus einer anderen Perspektive. Das schafft emotionale Nähe und ein intensives Seherlebnis.

Netflix-Serie Adolescence

Trotz der beeindruckenden Inszenierung blieb für mich eine zentrale Frage offen: Werden die Themen wirklich greifbar gemacht – oder lediglich skizziert? Adolescence gelingt es durchaus, auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen – etwa darauf, wie gefährlich Mobbing sein kann. Wie früh sich misogyne Weltbilder im Jugendalter verfestigen. Und wie sich junge Männer in Online-Foren radikalisieren, einander in ihrer Wut bestärken und in Foren gegenseitig aufstacheln können.

Misogynie – also blanker Frauenhass – zieht sich wie ein dunkler Faden durch die Serie. Besonders im Fokus: die sogenannte Incel-Subkultur. Der Begriff steht für "involuntary celibates", also Männer, die sich selbst als unfreiwillig enthaltsam sehen – im Netz oft zynisch als "ewige Jungfrauen" verspottet.
Ein zentrales Narrativ innerhalb dieser Szene ist die sogenannte 80/20-Theorie: 80 % der Frauen würden sich nur für die attraktivsten 20 % der Männer interessieren. Der Frust der vermeintlich ausgeschlossenen Mehrheit dient dann als Rechtfertigung – für Frauenverachtung, Wut und Gewaltfantasien. Ein toxischer Kreislauf, den Adolescence zwar sichtbar macht, aber nicht immer konsequent hinterfragt.

Doch das Problem: Die Serie kratzt nur an der Oberfläche. Viele zentrale Begriffe und Dynamiken werden zwar gestreift, aber nicht wirklich erklärt. Wer kein Vorwissen mitbringt, bleibt oft ratlos zurück. Und genau da liegt das Problem: Adolescence verfehlt ausgerechnet jene Zielgruppe, die am dringendsten Aufklärung bräuchte.

Versteckte Emoji-Botschaften: Codes mit Bedeutung

Ein spannendes Detail sind die versteckten Botschaften in Emojis, die in der Serie kurz angeschnitten werden – und auch im echten Leben brandgefährlich sein können. Was auf den ersten Blick harmlos wirkt, kann im Incel-Kontext eine ganz andere Bedeutung tragen:

  • 🫘 Bohnen-Emoji: Codewort innerhalb der Szene, ein Erkennungszeichen unter Incels
  • 💥 Explosion: Symbol für angestaute sexuelle Frustration
  • 💯 100-Prozent-Zeichen: Verweis auf die 80/20-Theorie und manipulative Argumentationsmuster
  • ☕ Kaffee-Emoji: spöttischer Kommentar auf vermeintlich „überemotionale“ Frauen, oft ohne weitere Erklärung
  • 🔴 Rote Pille: Anspielung auf die „Red Pill“-Ideologie: Männer „erwachen“ und durchschauen angeblich ihre Unterdrückung durch Frauen – ein gefährliches Narrativ mit Ursprung in der Matrix-Symbolik

Natürlich ist nicht jedes Emoji gleich ein Alarmsignal. Aber in bestimmten Online-Kontexten können sie genau das sein – Warnzeichen, die man erkennen sollte.

Wer sollte eigentlich zuschauen?

Nach dem Serienstart wurde in England vorgeschlagen, Adolescence als Pflichtprogramm in Schulen zu zeigen. Gut gemeint – aber am falschen Ort.
Denn wie die Serie selbst zeigt, wissen Jugendliche sehr genau, was in ihren digitalen Welten passiert. Die Ahnungslosen sind oft die Erwachsenen: Eltern, Lehrkräfte, Polizist*innen, Politiker*innen. Sie müssten dringend geschult werden – und nicht nur zuschauen, sondern verstehen, was sie da sehen.

Was es bräuchte, wäre ein begleitendes Bildungsangebot speziell für Erwachsene. Erst mit solidem Grundlagenwissen über Incel-Kultur, Misogynie und Online-Mobbing lässt sich die Serie richtig einordnen - und kann Jugendlichen wirklich beigestanden werden.

Wichtiger Schritt – aber zu wenig Mut zur Tiefe

Adolescence ist mutig, intensiv und bildgewaltig – und genau deshalb frustrierend, weil die Serie  nicht konsequent in die Tiefe geht. Sie hätte das Potenzial, die breite Gesellschaft wachzurütteln. Stattdessen bleibt sie zu oft in Andeutungen stecken und erreicht vor allem jene, die sich bereits auskennen.

Und trotzdem: Unbedingt ansehen! Denn die Thematik geht uns alle an – und die visuelle Umsetzung ist beeindruckend. Vielleicht ist Adolescence nicht die Antwort, aber hoffentlich der Anfang einer längst überfälligen Debatte.

Quellen: funk, WDR: Die Macht der Frauenhasser im Netz

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