Herr Kessner, Sie sind seit 2018 Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde in Malmö. Wie haben Sie den Eurovision Songcontest (ESC) am Samstag erlebt?
Lars Kessner: Es war ja nicht nur der Samstag, sondern eine ganze Woche, die wir erlebt haben. Die Generalprobe zum ersten Halbfinale und die Live-Show zum zweiten Halbfinale habe ich mir selbst live in der Arena angeschaut. Das Finale haben wir dann zusammen mit der Gemeinde am Fernseher verfolgt, alle gemeinsam, Kinder und Erwachsene.
"Es ist spannend, zu sehen, wie sich eine Stadt, in der man lebt, verändert durch einen solchen Wettbewerb"
Sie haben den ESC also richtig zelebriert?
Sich das anzuschauen und auch zu spüren, zu sehen, zu hören – das war schon interessant. Auch, die Stadt zu beobachten. Es ist spannend, zu sehen, wie sich eine Stadt, in der man lebt, verändert durch einen solchen Wettbewerb. Damit meine ich nicht nur die pro-palästinensischen Demonstrationen. Alles, was sich in und außerhalb der Halle ereignet hat, habe ich sehr genau beobachtet.
Welche Eindrücke haben Sie mitgenommen?
Die Stadt war auf jeden Fall geschmückt und vorbereitet, mit einer Art Partymeile. Es gab viel Raum für Essen und Zusammenkünfte, und auch kleinere Events im Stadtgebiet. Ich hatte ehrlich gesagt erwartet, dass es voller ist. Es sollen ja 100.000 Menschen dagewesen sein, aber es war nicht wie bei deutschen Volksfesten, wo sich die Leute auf den Füßen stehen. Mir wurde aber auch erzählt, dass die Atmosphäre 2013, als der ESC das letzte Mal in Malmö stattfand, ausgelassener gewesen sei. Tatsächlich war es dieses Mal wohl verhaltener.
"Von 10.000 Leuten haben vielleicht zehn ‚Buh‘ gerufen"
Lag das an der politischen Aufladung des Events?
Es gab die große Demonstration der Menschen, die für Palästina demonstriert haben. Ich habe viel Polizei gesehen, auch schwer bewaffnet, aber sehr freundlich statt bedrohlich. Und ein Hubschrauber ist die ganze Woche über der Arena gekreist. Also, auf der Straße war es auf jeden Fall politisiert, das muss man sagen, aber in der Halle dann wiederum gar nicht. Jedenfalls nicht bei den Halbfinals, da gab es zwar auch Buhrufe beim Beitrag von Israel, aber von 10.000 Leuten haben vielleicht zehn ‚Buh‘ gerufen.
Welchen Eindruck haben Sie aus den Gesprächen mit den Menschen gewonnen, denen aus Ihrer Gemeinde, aber auch darüber hinaus? Hat das Politische alles überschattet?
Nein, das wäre zu viel gesagt. Es war Thema, und wurde auch immer wieder angesprochen. Aber es gab auch sehr viele Fachgespräche, über die Musik, die Künstler und so weiter. Ich habe das in Deutschland auch nie so erlebt, dass sich alle so gut auskennen und mitreden können, nicht nur über den schwedischen Beitrag, sondern auch über die anderen Kandidaten. Das ist in Schweden ein bisschen wie in Deutschland beim Fußball: Viele interessiert es, und selbst die, die es nicht so sehr interessiert, schauen es, um mitreden zu können.
"Mir ist aufgefallen, dass es in Schweden ein noch viel größeres Vertrauen in die Meinungsfreiheit gibt"
Und wie haben Sie die politischen Diskussionen rund um den ESC wahrgenommen?
Na ja, die ESC-Veranstalter haben ja den Anspruch, dass es sich um eine unpolitische Veranstaltung handelt. Dass es nur um einen Austausch der Nationen durch Musik geht. Diesen Gedanken finde ich sehr schön, aber der ESC war natürlich noch nie ganz unpolitisch. Mir ist aber aufgefallen, dass es in Schweden ein noch viel größeres Vertrauen in die Meinungsfreiheit gibt. In Malmö gab es ja nicht nur pro-palästinensische Demonstrationen, sondern auch Koran-Verbrennungen. Das wäre in Deutschland undenkbar. Damit will ich nicht sagen, dass das löblich ist, aber es ist eben ein großer Unterschied.
Welches Fazit ziehen Sie nach der Woche ESC?
Mir persönlich hat das alles sehr viel Spaß gemacht. Ich war noch nie live bei einem ESC dabei, und es ist natürlich toll, wenn das mal in einer Stadt passiert, wo man nicht anreisen muss, sondern einfach wohnt. Dafür bin ich sehr dankbar. Und insgesamt freut es mich, dass letztlich alles soweit gutgegangen ist. Es ist niemand zu Schaden gekommen, alle durften ihre Meinung sagen und viele Menschen haben fröhlich gefeiert und getanzt. Hoffentlich macht man den ESC nicht kaputt, indem man ihn politisch überhöht und vereinnahmt, und Gesinnung über Gesang stellt. Und bei einem gefühlten Drittel der Texte hieß die Botschaft schlicht "La, la, la" oder "Rim-tim-tagi-digi-dim-tim-tim". Wunderbar!
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