Für eine Reform der bayerischen Kirchenverfassung hat Reiner Anselm, Professor für Systematische Theologie und Ethik, geworben. Die Leitungsgremien der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) "bilden die Pluralität ihrer Mitglieder nicht mehr adäquat ab", kritisierte der Theologe beim Festakt "100 Jahre Kirchenkreis München", zu dem Regionalbischof Christian Kopp am Montagabend in die Dekanatskirche St. Markus eingeladen hatte. Anselm schlug vor, die geltende Wahlordnung in der Kirchenverfassung zugunsten einer Direktwahl für Gremien wie die Landessynode zu ändern. Das Ziel müsse sein:

"mehr Partizipation und mehr Vielfalt in der Kirche zuzulassen."

Am 1. Januar 1921 war die erste bayerische Kirchenverfassung in Kraft getreten. Sie sei "das Gründungsdokument einer vom Staat unabhängigen und bewusst demokratisch verfassten Landeskirche", sagte Regionalbischof Kopp in seiner Begrüßung. Zeitgleich mit der Verfassung wurden 1921 die Kirchenkreise München und Oberbayern, Ansbach und Bayreuth begründet.

Kritik an der heutigen Rolle der Kirche in der Gesellschaft

In seinem Impulsvortrag verwies Anselm darauf, dass die mangelnde Abbildung der Basis deren Bindung an die Kirche erodieren lasse. Das gelte für Individuen genauso wie für die Gesellschaft als Ganzes. Das offene Gespräch im vorpolitischen Raum sei früher die Domäne der Kirchen gewesen. "Diese Rolle haben die Kirchen längst verloren - ohne dass übrigens eine andere Einrichtung an diese Stelle getreten wäre", stellte der Theologe fest. Weil Bindungsabbrüche kaum rückgängig zu machen seien,

"kommt alles darauf an, solche Erosionsprozesse möglichst früh zu erkennen und Gegenmaßnahmen einzuleiten."

Zuvor hatte Harry Oelke, Professor für Kirchengeschichte, die Entstehungszeit der ersten Kirchenverfassung beleuchtet. Er verwies auf die theologischen Spannungen in der evangelischen Kirche der 1920er-Jahre: "Ein evangelischer Wertkonservatismus und eine innovative Aufbruchstimmung in den Gemeinden lagen bisweilen nicht weit auseinander", so der Theologe. Die theologischen und politischen Haltungen wichen stark voneinander ab, es gab Differenzen zwischen den Generationen, der Stadt-Land-Unterschied in Bayern "war markant", zählte Oelke auf. Die Erfinder der Kirchenverfassung von 1921 sei deshalb in besonderer Weise zur Konsensfindung genötigt gewesen.

Menschlichkeit und Nächstenliebe "Leitsterne" des Glaubens

Als Gratulanten für Kirchenkreis und Kirchenverfassung waren Kultusminister Michael Piazolo, Verfassungsgerichtshofpräsident Hans-Joachim Heßler, Weihbischof Rupert Graf zu Stolberg und Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München (IKG), zum Festakt gekommen. Der Kultusminister bezeichnete die evangelische Kirche in Oberbayern als "laute, wohl zu vernehmende Minderheit", die sich seit 100 Jahren deutlich Gehör verschaffe. Er habe es gerade während der Coronapandemie als wohltuend empfunden, "die Stimme der Kirchen zu hören", so Piazolo.

Als "Leitsterne" des christlichen und des jüdischen Glaubens bezeichnete Charlotte Knobloch Menschlichkeit und Nächstenliebe. Über die enge Partnerschaft und Freundschaft der beiden Religionsgemeinschaften sei sie "außerordentlich" froh, sagte die IKG-Präsidentin. Sich nicht auf dem Erreichten auszuruhen, sondern die Welt besser zu machen,

"ist ein Ziel, das uns verbindet."

Die bayerische Landeskirche besteht aus sechs Kirchenkreisen, die wiederum in Dekanate und Gemeinden unterteilt sind. Im Kirchenkreis München und Oberbayern leben 482.139 evangelische Christen. Die Kirchenverfassung regelt die Aufgaben und die Organisationsstruktur der ELKB.