Wir schreiben das Jahr 2024 und die Gesellschaft hat in vielen Bereichen große Fortschritte gemacht. Dennoch gibt es bislang keinen einzigen männlichen Fußballprofi, der sich offen zu seiner Homosexualität bekennt. Woran, glauben Sie, liegt das?

Pascal Kaiser: Generell finde ich, dass wir in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern schon sehr weit sind und ich bin sehr froh darüber. Ich glaube aber, dass der Grund, warum sich noch kein Fußballprofi geoutet hat, der öffentliche Druck ist und die Angst, in der Mannschaft oder von den Fans ausgegrenzt zu werden. Auch das Geld spielt eine große Rolle, wir reden hier von mehreren Millionen. Auch wenn die Konten gut gefüllt sind, bleibt die Angst, etwas zu verlieren. Ich kenne persönlich drei homosexuelle Fußballprofis, und einem wurde sogar abgeraten, sich zu outen. Solange es im DFB Leute in Führungspositionen gibt, die homo- oder bisexuellen Spielern von einem Outing abraten, und solange es solche Einstellungen gibt, wird sich wohl niemand outen.

Sie meinen Philipp Lahm, oder?

Ja. In seinem Buch "Das Spiel: Die Welt des Fußballs" hat er 2021 geschrieben, dass er keinem Profi in Deutschland raten würde, zu seiner Homosexualität zu stehen. Das finde ich sehr bedenklich. Wenn jemand, der eigentlich immer weltoffen und positiv wirkt, so eine Aussage trifft, ist das mehr als deplatziert.

"Es gibt immer noch homophobe Aktionen von Fans und Diskriminierung im Fußball"

Spielt Angst aus Ihrer Sicht wirklich noch so eine große Rolle?

Ich will das nicht pauschalisieren. Aber ich glaube, die Angst vor den Reaktionen der Fans und dem Druck der Medien ist am größten. Es gibt immer noch homophobe Aktionen von Fans und Diskriminierung im Fußball. Wir reden hier von Menschen, die Tausende von Followern auf Instagram haben und viele Fans, die nur ihretwegen ins Stadion kommen. Diese Fans können sehr positiv oder sehr negativ reagieren. Wenn ein Fußballspieler dann homophobe Sprüche hört oder entsprechende Plakate sieht und keine Konsequenzen folgen, kann ich verstehen, dass er denkt: Warum sollte ich mich outen?

Welche Konsequenzen wären aus Ihrer Sicht wünschenswert?

Als Erstes wünsche ich mir, dass der DFB Homophobie im Regelwerk verankert. Das sollte auch Vorfälle auf dem Platz betreffen, zum Beispiel durch Spielunterbrechungen oder -abbrüche bei homophoben Vorfällen. Es ist wichtig, dass solche Handlungen unter Strafe stehen. Bei rassistischen Äußerungen sehen wir oft schnelle Reaktionen, aber bei homophoben Beleidigungen passiert seitens des DFBs nichts. Der DFB sollte hier noch mehr in die Pflicht genommen werden. Es gibt viele Maßnahmen, die der DFB ergreifen könnte, anstatt ein Jahr lang nichts zu tun und einen Bundestrainer zu beschäftigen, der das Thema als unwichtig abtut. Es reicht nicht, nur während des Pride-Months das Logo in Regenbogenfarben zu schmücken und einen Instagram-Post zu machen. Solche symbolischen Gesten sind bedeutungslos, wenn sie nicht von echten Taten begleitet werden.

Pascal Kaiser

Pascal Kaiser ist in Köln geboren und aufgewachsen. Er ist Vereinsmitglied beim 1. FC Köln und pfeift als Schiedsrichter in der Regional- und Verbandsliga. Eine Zeit lang hat er in der Prignitz/Brandenburg gelebt, dort hatte er sein Coming-out als bisexuell. Mittlerweile lebt er wieder in Köln. Dort arbeitet er als Betriebsleiter in einer Bar.

"Wenn das so ist, braucht man auch keine Respekt-Armbinde"

Sie spielen auf Bundestrainer Julian Nagelsmann an, der vor der Europameisterschaft meinte, eine Regenbogen-Armbinde für den Kapitän sei nicht so wichtig.

Genau. Für mich wäre es ein starkes Zeichen gewesen, gerade nach der WM in Katar. Aber stattdessen hat Julian gesagt, dass das Thema nicht so wichtig ist und dass man sich auf guten Fußball konzentrieren sollte, um den Nachwuchs zu fördern, anstatt sich mit politischen Dingen zu beschäftigen. Wenn das so ist, braucht man auch keine Respekt-Armbinde, denn das ist genauso politisch.

Glauben Sie, wenn der erste Bundesliga-Profi sich outet, hätte das Signalwirkung und alles würde leichter für homo- oder bisexuelle Spieler?

Ich bin fest davon überzeugt, dass sich etwas ändern wird, wenn sich der erste Spieler outet. Dann ist der DFB gezwungen, sich zu äußern und Maßnahmen zu ergreifen. Wenn sie nichts tun, machen sie sich lächerlich und bekommen noch mehr negative Schlagzeilen. Deshalb bin ich mir ziemlich sicher, dass dann etwas passieren wird. Die Spieler, mit denen ich in Kontakt stehe, sagen auch, dass sie darauf warten, dass jemand den ersten Schritt macht, damit sie abschätzen können, wie es laufen wird, wenn sie es selbst tun. Ich glaube, wenn einer den Mut dazu hat, werden viele weitere folgen. Dadurch könnte das Thema Homosexualität im deutschen Fußball irgendwann zur Normalität werden, und das ist mein Wunsch. Ich bin fest davon überzeugt, dass es so kommen wird, aber dafür braucht es zunächst jemanden, der den Mut aufbringt und ein Vorbild ist, wie es beispielsweise Josh Cavallo in Australien ist.

Vor zwei Jahren hatten Sie Ihr Coming-out als bisexueller Schiedsrichter. Wie kam es dazu?

Damals habe ich den CSD mitorganisiert. Für mich war Schiedsrichtern immer Arbeit, Training und Privates waren getrennt, auch wegen der Homophobie im Fußball. Während der Organisation hatte ich Pressetermine und wurde von einem Journalisten ziemlich in die Ecke gedrängt, warum ich das tue. Das können Journalisten ja ganz gut. Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem ich sagte: 'Ich mache das, weil ich bisexuell bin.' Der Journalist hat das natürlich mit einem Grinsen im Gesicht aufgeschrieben und die Geschichte ist in der Lokalzeitung erschienen.

Ich habe nur mit Freunden und meiner Familie darüber gesprochen, bevor ich diesen Teil von mir öffentlich gemacht habe. Mir wurde von mehreren Seiten davon abgeraten. Mein Vater sagte: 'Pascal, mach es, du bist der Erste, das ist eine große Chance für dich, mach es auf jeden Fall.' Andere meinten hingegen: 'Pascal, du wirst entweder in der Position bleiben, in der du bist, ohne Aufstiegsmöglichkeiten, oder du wirst hochgezogen und man sagt, es liegt nur an deiner Sexualität.' Beide Szenarien sind hart.

"Seitdem nehme ich gerne zwei Prozent Hass auf mich, um die 98 Prozent positives Feedback und Unterstützung genießen zu können"

Hatten Sie negative Erlebnisse nach Ihrem Coming-out?

Ich erinnere mich an ein bedeutendes Derby kurz darauf, das eine große Ehre war, pfeifen zu dürfen. Ich war echt nervös, als ich in der Kabine stand, umgezogen war und den Spielball in der Hand hielt. Ich habe zu meinen Assistenten gesagt: 'Leute, ich weiß nicht, ob ich das kann, ich habe echt Angst.' Aber als ich rausging, standen die Spieler Spalier, ich wurde beklatscht, und alles war gut. Es war ein sehr schöner Moment. Seitdem nehme ich gerne zwei Prozent Hass auf mich, um die 98 Prozent positives Feedback und Unterstützung genießen zu können.

Das Positive überwiegt also bei weitem?

Auf jeden Fall. Es gibt immer Situationen, in denen Schiedsrichter im Mittelpunkt stehen und beleidigt werden, so schlimm das auch ist. Wir Schiedsrichter sind immer Ziel von Beleidigungen. Ich persönlich habe homophobe Aussagen nur zweimal direkt gegen mich und mein Outing erlebt. Ansonsten geht das bei mir da rein und dort wieder raus.

Wie reagieren Sie, wenn es gegen Sie persönlich geht?

Also, wenn es um Spieler oder Spieloffiziellen geht, bekommen sie die rote Karte, wenn es nach der roten Karte eskaliert oder ich mich nicht mehr sicher fühle, würde ich das Spiel abbrechen. Für mich ist Schiedsrichtern auch ein Hobby, und ohne mich können die Spieler ihr Hobby nicht ausüben. Das ist einfach so. Einmal gab es eine Situation, bei der homophobe Äußerungen von Jugendspielern von der Tribüne kamen. Ich habe das Spiel unterbrochen, bin zu beiden Trainern gegangen und habe gesagt: Entweder die Zuschauer gehen oder ich gehe, und das Spiel ist dann vorbei. Die Vereinsverantwortlichen waren vollkommen auf meiner Seite, die Spieler mussten das Stadion verlassen, und das Spiel wurde fortgesetzt.

Warum sind Sie eigentlich Schiedsrichter geworden?

Vor acht Jahren musste ich nach mehreren Verletzungen als Spieler meine aktive Fußballkarriere beenden. Fußball ist meine Leidenschaft und ich wollte nicht damit aufhören. Aber ich habe gemerkt, dass ich nicht mehr auf dem Niveau spielen konnte, das ich mir vorgestellt hatte. Also hängte ich meine bunten Fußballschuhe an den Nagel. Zuerst dachte ich daran, Trainer zu werden, aber ich hatte keine Lust, kleine Kinder zu trainieren. Ich liebe Kinder, aber nach einem Training mit meinem kleinen Bruder habe ich gemerkt, dass der Trainerjob nichts für mich ist. Also blieb die Option Schiedsrichter. Ich habe lange überlegt und schließlich meine bunten Schuhe gegen schwarze Schiedsrichterschuhe getauscht. Mittlerweile pfeife ich in der Verbands- und Regionalliga.

"Wenn dabei Menschenrechte keine Rolle spielen, dann schäme ich mich für meine Leidenschaft"

Nun läuft gerade die Europameisterschaft. Sponsor ist unter anderem Katar, das wegen schwerer Diskriminierung und Verfolgung von Homosexuellen in der Kritik steht. Wie sehen Sie das?

Ehrlich gesagt bin ich der Meinung, dass alles, was der DFB gesagt hat, um es auf den Punkt zu bringen, nur Augenwischerei ist. Wenn sie solche Sponsoren akzeptieren, glaube ich nicht, dass der DFB aus den Fehlern gelernt hat. Es fällt mir schwer, nicht wütend zu werden, denn ich finde das mehr als enttäuschend. Ich denke, dass wir in Deutschland einem Land keine Bühne geben sollten, das Menschenrechte nicht respektiert, auch nicht als Sponsor. Auch wenn viel Geld im Fußball fließt und es ein Geschäft ist – wenn dabei Menschenrechte keine Rolle spielen, dann schäme ich mich für meine Leidenschaft.

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