Ich habe mir den Demokratiezufriedenheitsindex angeschaut: Fast 40 Prozent der Deutschen sind sehr oder teilweise unzufrieden damit, wie Demokratie in Deutschland funktioniert. Was machen Sie mit so einer Zahl?

Martin Becher: Zunächst einmal denke ich, dass diese Zahl sehr unspezifisch ist. Es ist wichtig, sich zu überlegen, was die Menschen unter Demokratie verstehen. Es gibt sicherlich elaborierte Vorstellungen, aber auch sehr einfache. Ich mutmaße, dass für Viele die Frage, was das Ergebnis einer Regierungsform ist, entscheidend ist. Demokratiezufriedenheit wird häufig nicht nur daran gemessen, ob Minderheiten geschützt werden oder die Menschenrechte eingehalten sind, sondern viel konkreter: "Wie geht es mir persönlich? Was habe ich davon?" Ich nenne das gerne die "Kaugummiautomaten-Vorstellung" von Politik. Man wirft seine Stimme ein und erwartet im Gegenzug genau das, was man sehen möchte – wie die Kaugummis im Automaten.

"Menschen schauen sich die Politik wie ein Spiel im Stadion an"

Glauben Sie, dass diese Vorstellung die politische Partizipation der Menschen beeinflusst?

Ja, das tut sie auf jeden Fall. Ein Theater-Intendant aus Thüringen, mit dem ich neulich gesprochen habe, beschrieb eine Entwicklung hin zu einer Art "Zuschauerdemokratie". Menschen schauen sich die Politik wie ein Spiel im Stadion an: Gefällt mir das Spiel nicht, wechsle ich einfach den Verein. Dieses Muster zeigt sich auch in der Wahl von Parteien oder politischen Systemen. Ich denke, diese wachsende Unzufriedenheit mit der Demokratie ist ein Ausdruck davon, dass viele Menschen sich nicht mehr gut aufgehoben fühlen.

Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptursachen für diese Unzufriedenheit?

Ein wichtiger Aspekt ist, dass es vielen Menschen nicht mehr so gut geht, auch wenn Deutschland insgesamt immer noch ein wohlhabendes Land ist. Die Perspektiven scheinen unsicherer zu werden. Hinzu kommt, dass wir heute in einer Art "Empörungsgesellschaft" leben. Der politische Stil hat sich verändert; Empörung wird oft als Tugend angesehen, sowohl von der extremen Rechten als auch von anderen politischen Akteuren.

"Die letzten anderthalb Jahre haben nicht dazu beigetragen, die Politik in einem positiven Licht erscheinen zu lassen"

Wie hat sich das auf die Wahrnehmung der Demokratie ausgewirkt?

Die Menschen neigen auch dazu, die Demokratie weniger nach ihrer Funktionsweise zu beurteilen, sondern vielmehr nach ihrer "Performance". Die letzten anderthalb Jahre haben nicht dazu beigetragen, die Politik in einem positiven Licht erscheinen zu lassen. Hinzu kommt, dass kritische Stimmen, die besonders laut sind, oft eigene Interessen haben, die sie aber dann nicht offenlegen.

Unser Gesprächspartner

Martin Becher ist ein deutscher Diplom-Pädagoge und Diplom-Politikwissenschaftler, der sich intensiv für Demokratie, Toleranz und den Kampf gegen Rechtsextremismus einsetzt. Seit 2024 leitet er die neu gegründete "Fachstelle Demokratie und gesellschaftliches Miteinander" der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.

Zuvor war Becher von 2010 bis 2023 Geschäftsführer des "Bayerischen Bündnisses für Toleranz – Demokratie und Menschenwürde schützen" und leitete die Projektstelle gegen Rechtsextremismus am Evangelischen Bildungszentrum Bad Alexandersbad.

Für sein herausragendes Engagement wurde Becher mehrfach ausgezeichnet. Im Juli 2024 erhielt er den Hermann-Müller-Franken-Preis, der sein Engagement für die Demokratie in Franken würdigt.

Im Dezember 2024 wurde ihm der Bayerische Verfassungsorden verliehen, eine der höchsten staatlichen Anerkennungen im Freistaat Bayern.

Becher ist zudem Initiator und Geschäftsführer des "Runden Tisches Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern und Rechtsextremismus" und hat zahlreiche Publikationen zur Praxis der Erwachsenenbildung verfasst.

Sein Engagement und seine Expertise machen ihn zu einer zentralen Figur im Einsatz für Demokratie und gegen Rechtsextremismus in Bayern.

Wie sehen Sie die langfristige Perspektive der Demokratie in Deutschland?

Ich denke, dass wir uns genau überlegen müssen, worüber wir reden. Es geht nicht nur um die Output-Funktion der Demokratie, sondern auch um deren grundlegende Werte. In der Vergangenheit waren die 30 Jahre zwischen 1945 und 1975, die berühmten ""trente glorieuses", von einem Aufschwung geprägt, der mit Wohlstand und Perspektiven verbunden war. Diese "Fahrstuhlgesellschaft" ließ viele glauben, dass es immer nur aufwärts gehen kann. Die Realität hat sich jedoch verändert. Ich kann meinen Töchtern nicht mehr versprechen, dass es ihnen mal besser geht als mir. Ich kann nur sagen, dass ich alles tun werde, damit es ihnen annähernd so gut geht.

"Die Zukunft der Demokratie tatsächlich eine offene Frage"

Glauben Sie, dass wir die Demokratie unter den aktuellen Bedingungen aufrechterhalten können?

Das ist die große Frage. Die Voraussetzungen, die in der Vergangenheit für die Demokratie sprachen, sind nicht mehr gegeben. Wir müssen uns nun mit der Herausforderung auseinandersetzen, wie wir Demokratie unter Bedingungen nachlassenden Wohlstands erhalten können. In Regionen wie Bayern und Baden-Württemberg, wo die Automobilindustrie eine zentrale Rolle spielt, werden wir die Auswirkungen dieser Entwicklungen bald spüren. Deshalb ist die Zukunft der Demokratie tatsächlich eine offene Frage.

Was wären wichtige Dinge, die wir jetzt tun können?

Ich möchte mit der Politik anfangen. Die Politik muss darauf achten, ihren Output zu verbessern und auch die Darstellung dieses Outputs zu optimieren. Das ist eigentlich die Hauptkritik an der Ampelregierung: In den drei Jahren wurden sehr viele neue Gesetze auf den Weg gebracht, es könnte sogar zu viel gewesen sein. Zuvor wurde über Jahre hinweg zu wenig unternommen. Der Output muss sich stärker an den Bedürfnissen der Menschen orientieren und besser erklärt werden. Dafür muss man sich Zeit nehmen.

In einer Demokratie ist der Wettbewerb zwischen den Parteien ähnlich wie in einer Marktwirtschaft. Wir erleben das gerade im Wahlkampf. Die Parteien, die unrealistische Zielsetzungen versprechen, haben oft ein leichteres Spiel als die anderen, die reflektierter und realistischer sind. Es ist wichtig, dass die Zivilgesellschaft sagt: "Vorsicht, schaut genau hin! So einfach lassen sich Probleme nicht lösen." Und es gibt eben keine Schwarz-Weiß-Realität. Oft wird suggeriert, dass nur die Anderen schuld sind, aber auch wir selbst, jeder und jede Einzelne müssen uns ändern.

Was ist die Rolle der Kirche in diesem Prozess?

Die Kirche hat die Aufgabe, auf die Realitäten hinzuweisen und zu hinterfragen, wie angemessen die Versprechungen sind, die aus verschiedenen Perspektiven geäußert werden. Es ist auch wichtig, immer wieder auf das hinzuweisen, was bereits geleistet wurde. Gleichzeitig brauchen die Menschen Perspektiven. Es darf nicht nur der Eindruck entstehen, dass alles schlecht wird. Menschen müssen verstehen, dass trotz Herausforderungen auch Positives und Neues entstehen kann.

Dabei dürfen wir nicht blauäugig sein - wir haben uns Herausforderungen zu stellen. Die Klimakrise und das Artensterben etwa werden Migration verursachen, und das ist für die Migranten sowie für die Gesellschaften, zu denen sie migrieren, keine einfache Situation, ja, teilweise eine Zumutung. Migration ist eine Reaktion auf Druck und Zwang, keine freiwillige Entscheidung.

Wir müssen überlegen, wie wir mit solchen Zumutungen umgehen. Die Kirche kann und sollte dabei eine wichtige Funktion erfüllen, indem sie Menschen stärkt und ihre Resilienz fördert. Viele von uns in der evangelischen Kirche leben relativ gut abgesichert, haben stabile persönliche Verhältnisse, einen gewissen Wohlstand. Doch auch wir empfinden die geschilderten Herausforderungen als Zumutungen. Wie müssen sich dann erst die Menschen fühlen, deren Resilienz deutlich geringer ist?

"Die Kirche sollte daran arbeiten, die Resilienz von Einzelpersonen und Gemeinschaften zu stärken"

Was kann die Kirche tun, um diesen Menschen zu helfen?

Wir sollten nicht abschätzig über die Herausforderungen anderer sprechen. Vielmehr müssen wir verstehen, was diese Herausforderungen für andere bedeuten und welche Unterstützung sie benötigen. Die Kirche, als Glaubensgemeinschaft und als zivilgesellschaftlicher Akteur, sollte daran arbeiten, die Resilienz von Einzelpersonen und Gemeinschaften zu stärken.

Was könnte ganz konkret geschehen?

Dazu gibt es viele kleine, aber bedeutende Schritte, die wir unternehmen können. Eine wichtige Maßnahme ist, dass wir Menschen ermutigen, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Das kann durch ehrenamtliches Engagement geschehen, und in Bayern haben wir das Glück, dass die Bereitschaft dazu noch immer sehr hoch ist. Diese Ehrenamtlichen sollten wir stärken und wertschätzen.

Wir müssen dafür sorgen, dass wir Leute gut ausbilden und Möglichkeiten schaffen, damit sie ihr Engagement gut ausfüllen können. Eine persönliche Sorge von mir ist die Situation unserer Kommunalpolitik. Letzte Woche erschien ein interessanter Artikel über Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, die mit Burnout kämpfen. Das Thema beschäftigt mich schon länger, und es zeigt, wie herausfordernd die Situation für diese Menschen ist.

Mit den Kommunalwahlen im März 2026 vor der Tür sollten wir überlegen, wie wir Menschen motivieren können, demokratische Ämter zu übernehmen. Dabei möchten wir nicht für eine bestimmte Partei werben, sondern überparteilich für die Demokratie agieren. Es ist uns wichtig, ein Signal zu senden, dass wir als Kirche hinter diesen Engagements stehen, es geht ums Gemeinwesen.

"Wir agieren anders als eine Friedensinitiative oder eine Gewerkschaft"

Laut einer KMU-Auswertung wünschen sich viele Menschen von der Kirche eine aktivere Rolle in gesellschaftlichen Themen. Das passt zu dem, was Sie fordern, oder?

Dies habe ich in meiner 15-jährigen Arbeit zum Thema Rechtsextremismus oft erlebt. In Bayern ist die evangelische Kirche in nahezu jedem Bündnis gegen Rechtsextremismus bzw. für Toleranz aktiv. Oft ist der lokale Pfarrer oder die Pfarrerin Sprecher dieser Initiativen, und die Treffen finden in kirchlichen Gemeindehäusern statt. Diese enge Verbindung zeigt, dass die Menschen die gesellschaftliche Funktion der Kirche wertschätzen, auch wenn sie nicht deren Mitglied sind.

Es ist jedoch entscheidend, dass wir als Kirche reflektieren, aus welcher Motivation heraus wir uns engagieren. Wir agieren anders als eine Friedensinitiative oder eine Gewerkschaft, unser Handeln basiert auf den Werten des christlichen Glaubens. Dieses moralische Fundament muss klar sein, da es unser Handeln in der Öffentlichkeit prägt.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Ja: Bei den Demos zu den Correctiv-Recherchen Anfang des Jahres wurde oft "Ganz … hasst die AfD" skandiert. Viele Kirchenmitglieder äußerten aber, dass sie Hass nicht mit Hass bekämpfen wollen. Dies widerspricht unseren Werten, unserer inneren Haltung. Unsere Aufgabe ist es, diese Werte in die zivilgesellschaftliche Diskussion einzubringen. In Landshut hat die Dekanin daraus "Ganz Landshut liebt die Demokratie" gemacht, und dies wurde von den Menschen bejubelt. Das ist unser Beitrag, ein positives Zeichen gegen den Hass.

Eine Theologin kritisierte kürzlich, dass die Kirche zu sehr auf Bildungsbürger fokussiert sei. Teilen Sie diese Meinung?

Ja, das kann ich nachvollziehen. Die Kirche spiegelt die Gesellschaft wider. Wenn wir uns anschauen, dass die AfD mittlerweile die Arbeiterpartei schlechthin ist, zeigt das ein gesellschaftliches Versäumnis. Es wäre aber kurzsichtig, die Verantwortung allein den Parteien zuzuschieben, denn auch diese leben in einem gesellschaftlichen Kontext. Wir erleben, dass viele Menschen sich von Großorganisationen wie der Kirche und den Gewerkschaften abwenden. Viele sind nicht mehr zur Wahl gegangen, weil sie sich nicht repräsentiert fühlen. Diese Entwicklung ist eine Anfrage an alle Strukturen, und wir müssen uns selbstkritisch hinterfragen. Es ist alarmierend, dass die Wahlbeteiligung oft so gering ist. In Duisburg nach der Love-Parade-Katastrophe lag sie bei der OB-Wahl damals unter 20 Prozent.

"Die Demokratie sollte den Anspruch haben, alle Menschen zu erreichen"

Was bedeutet das für die Demokratie?

Die Demokratie sollte den Anspruch haben, alle Menschen zu erreichen. Es ist besorgniserregend, wenn immer weniger Menschen wählen oder extrem wählen und sich die politischen Strukturen dennoch nicht ändern. Früher gab es in der EKD-Synode noch Arbeiter, heute fehlen solche Stimmen. In den Parlamenten und den Medien sieht es nicht besser aus, Unternehmen rekrutieren sich oft nur aus einer kleinen Oberschicht. Solche Strukturen sind auf Dauer nicht tragfähig.

Wie können wir dieses Ungleichgewicht adressieren?

Wir müssen strukturelle Benachteiligungen aufgrund von Identitäten und Zugehörigkeiten ernst nehmen, dürfen aber auch die ökonomische Verteilung nicht vergessen. Die Bauernproteste beispielsweise haben gezeigt, dass viele sich politisch nicht wahrgenommen und sich gesellschaftlich nicht wirksam oder relevant fühlen. Wir müssen auch die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen in städtischen und ländlichen Gebieten im Blick haben und sicherstellen, dass alle Stimmen Gehör finden. Andernfalls zahlen wir die Rechnung für diese strukturell blinden Flecken.

"Viele Menschen ziehen sich zurück oder streiten auf schädliche Weise"

Wie kann Kirche den öffentlichen Diskurs fördern?

Wir müssen neue Formate finden, um Menschen zu ermutigen, öffentlich ins Gespräch zu kommen. In Zeiten von TikTok und schnellen Informationen ist das besonders wichtig. Ich beteilige mich beispielsweise an dem  Projekt "Streitförderer", das von Christian Boeser, dem Erfinder der "Langen Nacht der Demokratie", initiiert wurde. Das Projekt zielt darauf ab, konstruktive und wertschätzende Streitkultur zu fördern. Viele Menschen ziehen sich zurück oder streiten auf schädliche Weise. Wir müssen lernen, wie man konstruktiv miteinander umgeht. Solche konkreten Initiativen sind wichtig für die Demokratie.

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