Tamara Luding vom Betroffenenrat bei der Missbrauchsbeauftragten braucht nicht viele Worte, um zu erklären, worin der Unterschied liegt:
"Hätten wir ein Gesetz, könnte ich einfach zu meiner alten Schule gehen und sagen: Ich hätte gern einen Termin. Ich möchte meine Akte einsehen."
Der Anspruch auf Akteneinsicht ist Teil der gesetzlichen Verbesserungen, die die Ampel-Koalition den Missbrauchs-Überlebenden versprochen hat. Das Bundeskabinett will das Gesetz an diesem Mittwoch auf den Weg bringen.
Luding: Habe ein Recht auf meine eigene Geschichte
Luding sagt, als Bundesgesetz habe es eine Vorbildfunktion. Betroffene erhalten das Recht, Informationen einzufordern und nachvollziehen zu können, was Behörden über sie im Kindes- oder Jugendalter festgehalten haben. Ob und was Lehrerinnen oder Erzieher, Sozialarbeiter oder Trainerinnen mitbekommen haben von sexualisierter Gewalt, das herauszufinden, sei für Betroffene extrem wichtig, sagt Tamara Luding: "Ich habe ein Recht auf meine eigene Geschichte." Nicht nur sie hat lange darauf gewartet, dass dieses Gesetz endlich kommt.
Gewartet hat auch Kerstin Claus, die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM).
"Wir müssen die Betroffenen unterstützen und ihre Rechte stärken", sagt sie. "Sonst kommen wir nicht voran."
Der Bund wolle dafür unter anderem das Recht auf Akteneinsicht bei den Jugendämtern stärken. Die Länder könnten dann nachziehen und zum Beispiel auch Schülerakten besser zugänglich machen, hofft Claus: "Es ist doch absurd, dass ich kein Recht habe, meine Akten zu lesen."
Künftig sollen Betroffene auch Jahre später noch ihre Akten einsehen können. "Das Gesetz wird Standards setzen", sagt die Missbrauchsbeauftragte. Ihr Amt, der bei ihr angesiedelte Betroffenenrat und die Aufarbeitungskommission sollen gesetzlich verankert werden. So haben es SPD, Grüne und FDP vereinbart. Bereits die Vorgänger-Regierung unter Kanzlerin Merkel hatte das Gesetz in Aussicht gestellt. Bisher beruhen die Arbeit der Beauftragten Claus und ihres Teams allein auf einem Regierungsbeschluss. Das Amt ist mit knapp zwölf Millionen Euro pro Jahr ausgestattet.
Thema Missbrauch soll auf der Agenda bleiben
Eine Berichtspflicht der Missbrauchsbeauftragten an Bundestag und Bundesrat soll in Zukunft dafür sorgen, dass das Thema auf der politischen Agenda bleibt. Claus will regelmäßige Dunkelfeldstudien in Auftrag geben, um Auskunft über das tatsächliche Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen Kinder geben zu können - über die polizeilich bekannten Fälle hinaus. Die unabhängige Aufarbeitungskommission soll gestärkt werden und zum Beispiel institutionelle Aufarbeitungsprozesse begleiten und bewerten. Alle Träger der Kinder- und Jugendarbeit sollen auf Schutzkonzepte verpflichtet werden.
Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) hatte den Entwurf des Gesetzes - intern UBSKM-Gesetz genannt - Ende 2023 in die regierungsinterne Abstimmung gegeben. Die Einbringung ins Kabinett verzögerte sich mehrfach, über die Gründe schwieg man sich aus. Der Berichterstatter für Kinder- und Jugendschutz der SPD-Fraktion, Daniel Baldy, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), es gehe um offene Fragen zur Finanzierung der Hilfen für Betroffene. Das Gesetz geht nun zur Beratung in den Bundestag. Anfang 2025 soll es in Kraft treten.
Tamara Luding ist als Kind von ihrem Stiefbruder missbraucht worden. Heute arbeitet sie als Referentin in der Bundeskoordinierungsstelle spezialisierter Fachberatungsstellen - das ist die Interessenvertretung aller Beratungsstellen, die gegen sexualisierter Gewalt in der Kindheit und Jugend tätig sind. In ihrer Kindheit und Jugend war Luding ihren eigenen Worten zufolge "eine sehr auffällige Schülerin". Sie wüsste wirklich gern, ob jemals jemand nach den Gründen für ihr Verhalten gesucht hat und was darüber in ihrer Akte steht. "Vor allem aber würde ich gern wissen, wer vielleicht hätte eingreifen oder helfen wollen und vom System daran gehindert wurde", sagt die heute 47-Jährige.
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