Nicht nur Präventionskonzepte, sondern auch Aufklärung und Aufarbeitung 

Der Betroffenen-Sprecher des Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Detlev Zander, fordert, dass sich die Gemeinden mit den Ergebnissen der ForuM-Studie über sexuellen Missbrauch in der Kirche befassen. Bei einem Podiumsgespräch am Donnerstagabend in Nürnberg über die Studie sagte Zander:

"Das muss jetzt in die Basis rein."

Es gebe immer noch Kirchengemeinden, in denen die Mitglieder überzeugt sind, "bei uns gibt es das nicht", sagte Zander.

Es trage nicht zur Glaubwürdigkeit der Kirche bei, "wenn eine Harmoniesoße drübergekippt wird". Das Harmoniebedürfnis in der evangelischen Kirche habe sexualisierte Gewalt mit ermöglicht, habe die ForuM-Studie deutlich gemacht, sagte der Betroffenen-Sprecher. Hinter Präventionskonzepten dürfe die Aufklärung und Aufarbeitung jetzt nicht versteckt werden.

Das Podiumsgespräch fand unter dem Motto "Und Gott schaut weg?" statt. Es war schlecht besucht: Nicht einmal zehn Zuhörerinnen und Zuhörer hatten die Gesprächsrunde besucht.

Kulturwandel in der Kirche

Ein weiteres evangelisches Merkmal, das die Betroffenen von Missbrauch besonders verletzt, bezeichnete die Nürnberger evangelische Regionalbischöfin Elisabeth Hann von Weyhern als "Perfidie, die nicht zu übertreffen" sei. Von den Opfern sei oft verlangt worden, den Tätern zu vergeben.

"Das ist keine Theologie",

betonte die Regionalbischöfin bei der Veranstaltung in der Stadtakademie.

Hann von Weyhern stellte aber auch fest, dass sich in der Kirche ein Kulturwandel einstelle. In den Gemeinden trauten sich mehr Menschen zu widersprechen, wenn behauptet werde, dass es sexuelle Missbrauchsfälle nicht oder nur in anderen Gemeinden gegeben habe.

Die Theologin räumte ein, dass Betroffene von sexualisiertem Missbrauch oft viel zu lange allein gelassen worden seien. Durch die Verfahren in der Kirche hätten sie das Gefühl bekommen, "da geht nichts voran". Sie forderte daher, in ihrer Kirche das Disziplinarrecht "weiterzuentwickeln".

Deutlich höhere Dunkelziffer

Ende Januar hatte ein Forscher-Team seine ForuM-Studie über sexualisierte Gewalt im Raum der evangelischen Kirche und der Diakonie vorgestellt. Eine der Autorinnen der Studie, Helga Dill vom Institut für Praxisforschung und Projektberatung, stellte in Nürnberg dar, welche Strategien der Täter und der Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten die Betroffenen besonders verletzt hätten. Sie seien ausgegrenzt worden, wenn sie davon berichteten, was ihnen angetan worden sei.

Und sie hätten erfahren, dass Verantwortliche in den Kirchen, wenn sie ihnen zugehört hätten, statt zu helfen, signalisierten, "es gibt so viele Vorschriften, an die wir uns halten müssen".

In der ForuM-Studie ist von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern die Rede. Die Forscher gehen aber von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus. Die bayerische Landeskirche hatte 129 beschuldigte Personen für den Zeitraum 1917 bis 2020 für die Studie identifiziert.

Interview mit der Leiterin der evangelischen Fachstelle für sexualisierte Gewalt Martina Frohmader

Aufklärung von sexuellem Missbrauch und Prävention gegen sexualisierte Gewalt sind gleichermaßen wichtig. Davon ist die Leiterin der evangelischen Fachstelle für den Umgang mit sexualisierter Gewalt, Martina Frohmader, überzeugt. Am Rande des Podiumsgesprächs sprach sie mit uns über das Thema. 

Die evangelischen Kirchengemeinden in Bayern sind nach dem kirchlichen Präventionsgesetz verpflichtet, Risikoanalysen zu erarbeiten und Schutzkonzepte gegen sexuellen Missbrauch zu entwickeln. Gibt es da nun eine Dynamik, dies zu tun? Die kaum besuchte Veranstaltung am Donnerstagabend in der Nürnberger Stadtakademie zu dem Thema sexueller Missbrauch spiegelt das ja nicht wider?

Martina Frohmader: Das kirchliche Präventionsgesetz ist ein großer Pluspunkt. Aber, die Situation ist vielschichtig: Die einen sind mit vollem Engagement dabei und wollen mit viel Motivation etwas ändern. Bei anderen bedarf es noch der Überzeugungsarbeit.

Die Betroffenen von sexuellem Missbrauch kommen oft aus Gemeinden. Wie kann man sie denn in die Aufarbeitung einbeziehen? Sollten Betroffene sich melden oder dürfen sie in den Gemeinden anonym bleiben?

Es hat in der vergangenen Woche ein Forum für Betroffene stattgefunden, zu dem es einen offenen Aufruf gab. In relativ kurzer Zeit haben sich 18 Menschen gemeldet, die daran teilnehmen wollten - auch Menschen, die wir in der Fachstelle gar nicht gekannt haben. Da ist ein Potenzial von Menschen, die sich einbringen wollen. Sie sind für uns wichtig, denn sie qualifizieren uns, denn sie sind die Expertinnen und Experten in ihrer eigenen Person und für das, was ihnen widerfahren ist. Es ist für uns ein Geschenk, wenn sie sich trotzdem auf diese Kirche noch einlassen und sich zur Verfügung stellen und wir gemeinsam an dem Thema arbeiten können. Worauf sie aber sehr genau achten, ist die Frage: Werden sie benutzt oder dürfen sie auch wirklich mitwirken? Und wenn sie das Gefühl haben, sie werden benutzt, dann gibt es Ärger - und zwar völlig zu Recht.

Wie umgehen mit Menschen in den Kirchengemeinden, die Täter geschützt haben, deshalb zu Mittätern geworden sind? Vielleicht schämen sie sich sogar heute für ein Schweigen oder Wegschauen.

Wenn Aufarbeitung in der Kirchengemeinde stattfindet, wird es zu Verletzungen kommen. Wenn etwa der Pfarrer der Täter war, der gleichzeitig mit ganz vielen Biografien verbunden ist. Er hat Paare getraut, Kinder getauft oder die Eltern beerdigt. Das macht dann was mit den Gemeindemitgliedern. Aber wir sind es den Betroffenen wirklich schuldig, dass wir trotzdem in diese Prozesse hineingehen. Sonst werden wir unglaubwürdig, würden uns als Kirche infrage stellen und hätten keine Berechtigung mehr, Kirche zu sein.

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden