Moderne Menschen mögen anscheinend Engel gerne. Nicht wenige erzählen, dass sie in Freud und Leid innige Zwiesprache mit "ihrem Engel" halten. Selbst kirchenkritische und bibelskeptische Zeitgenossen wissen sich von solchen "guten Mächten" freundlich umgeben und sicher durch Höhen und Tiefen des Lebens geleitet. Der Gedanke an Engel weckt in vielen gute Erinnerungen an den schönen Kinderglauben von einst.

Er vermittelt das Gefühl, unter starken Fittichen "wunderbar geborgen" zu sein, und erlaubt, sich einer aggressiven Welt gelegentlich regredierend zu entziehen. An Popularität überflügeln lieblich-romantische Engelsdarstellungen spielend die Strenge dogmatischer Gottesbilder. Der "Engelsglaube" berührt sich zudem mit esoterischen Vorstellungen von heute, kann als modern empfunden werden, scheint leichter glaubbar als der Glaube an Gott selbst, die Kraft des positiven Denkens scheint neuerdings Flügel angelegt und Engelsgestalt angenommen zu haben.

Umso wichtiger ist es, auf den biblischen Befund zu achten. Der vermittelt ein anderes Bild, durchaus kein einheitliches, selten ein liebliches, denn die Bibel ist in Jahrhunderten entstanden und von verschiedensten Kulturen beeinflusst. Die ersten "Engel" begegnen dem Bibelleser in Genesis, Kapitel 3 und sind jene gestrengen "Cherubim", die dem Menschen nach dem Sündenfall den Weg ins Paradies versperren. Genesis 6 erzählt aus grauer Vorzeit geheimnisvoll von "Söhnen Gottes", von archaischen Unwesen, die sich "Töchter der Menschen" nehmen und mit ihnen "Gewaltige" zeugen, den Titanen anderer Kulturen verwandte Wesen.

Wem ein "Bote des Herrn" begegnet, dem begegnet im Grunde Gott selbst

Zumeist begegnet uns in der Heiligen Schrift aber der eigentlich biblische Typus von Engel, den die hebräische Sprache "malach" nennt, also "Bote", "Gesandter"; "angelos" in der griechischen Version; "angelus" auf lateinisch; und von da ist der sprachliche Weg zu unserem "Engel" nicht mehr weit. Der Begriff "Bote" ist am besten von seinem profanen Sprachgebrauch aus zu verstehen.

Wenn orientalische Herrscher "Boten" schickten, um im diplomatischen Verkehr eine "Botschaft" ausrichten zu lassen, dann hatte der "Bote" die Botschaft wortwörtlich auszurichten und für deren Vermittlung mit Leib und Leben einzustehen. Der Bote war identisch mit der Botschaft, war im wörtlichen Sinne "his master's voice", "Stimme des Herrn", verkörperte seinen Herrn. "Engel" sind solche "Boten", "Gesandte des Himmels".

Von dieser Deckungsgleichheit rührt der eigenartige Schauder her, der Menschen in der Bibel überkommt, wenn ihnen ein "Bote des Herrn" begegnet, denn im Grunde begegnet einem damit Gott selbst, und seine Gegenwart ist so gewichtig, dass sterben müsste, wer ihn sähe. Allenfalls der "Blick hinterher" ist dem Menschen möglich, wenn Gott vorbeigeht, allenfalls der Blick auf den "Saum seines Gewandes". Nicht selten beginnt der Bote deshalb seine Rede mit dem Zuspruch: "Fürchte dich nicht!"

Der "Bote" in der Heiligen Schrift ist manchmal "nur" wie ein Mensch, der eben "nur" geheimnisvoll zur rechten Zeit am rechten Ort ist, bald hat er etwas überirdisch Bedrohliches. Manchmal greift er liebenswert in ein persönliches Schicksal ein, hilft aus Lebensgefahr, etwa wenn er der verstoßenen Hagar und ihrem Söhnchen Ismael in der Wüste zu einem Quell verhilft. Ein andermal fällt er Abraham in den Arm und rettet Isaak vom Opfertod.

Der "Bote" beeinflusst machtvoll den Lauf der Geschichte und der Naturgewalten, wenn er dem Volk Israel trockenen Fußes durch's Rote Meer und hernach durch die Wüste hilft. Gelegentlich versperrt der "Bote des Herrn" Königen und Propheten den Weg, droht im Namen Gottes mit Unheil oder aber verkündet "mit lieblichem Schritt" den Frieden und bereitet den Weg aus dem Exil. Bei allen Weichenstellungen der Heilsgeschichte ist "Gottes Bote" am Werk.

Im Himmel wird alles "ganz anders" sein, erklärt Jesus wortkarg

So auch im Neuen Testament. Da verheißt ein "Bote" mit seinem "Englischen Gruß" der Maria ihre wunderbare Schwangerschaft, den Hirten auf dem Felde verkündet er die "Frohe Botschaft" von der Geburt des Erlösers. Solcher Art "Boten" sind schließlich auch die Männer in weißen Gewändern, die am Ostermorgen beim leeren Grab Jesu stehen und die Auferstehung Christi verkünden. Dass Gottes "Boten" zu all diesen Missionen bei näherem Hinsehen keine Flügel brauchen, ist längst entdeckt.

Die jüngeren Bücher des Alten Testamentes lieben die Engel ganz besonders. Im apokryphen Buch Tobias begegnet ein Engel als Begleiter über Weg und Steg und durch tausend Gefahren des Lebenswegs. Die apokalyptischen Bücher der Bibel nehmen reichlich Anleihen von den Nachbarreligionen und verlieren sich gelegentlich auch in Spekulationen und Visionen über Engel, ihre Menge, ihr Aussehen, ihre Hierarchie, ihre Funktion und ihre Namen. Das Buch Daniel, der Prophet Sacharja, die Apokalypse des Johannes sind voll vom Wirken der Engel und Erzengel und schildern visionär die großen endzeitlichen Kämpfe, die der Entstehung eines neuen Himmels und einer neuen Erde vorangehen.

Befragt man Jesus nach himmlischen Details, antwortet er wortkarg, dass im Himmel alles "ganz anders" sein wird. Das wird den Glaubenden, auch was die Engel betrifft, genügen müssen und spekulative Vielwisserei verbieten. Wenn aber "das Vollkommene kommt", würde Paulus ergänzend sagen, "werden wir erkennen, wie wir erkannt sind". Derweilen gilt zumindest eine Erkenntnis ganz bestimmt: Im "Boten" begegnet uns Gott selbst, durch "Engel" spricht und handelt Gott selbst.

Gottes geflügelte oder ungeflügelte, himmlische oder irdische Helfer sind im Grunde seine freundliche oder strenge, seine weiterhelfende oder einhaltgebietende Nähe "in Person". Die Nähe Gottes aber dürfen Christen sicher im biblischen Sinn meditieren und ihr ganz bestimmt auch meditierend Engelsgestalt geben. Am besten aber so, dass sich die Engelverehrung nicht verselbständigt, sondern nur so, dass Gott selbst Lob, Preis und Ehre gegeben wird.