Es ist die Zeit der Raunächte. Im alten Volksglauben heißt es, dass jetzt Geister ihr Unwesen treiben.

Mich verfolgen wirklich manche Geister. Dämonen. Dunkle Gedanken.

Denn in der eher ruhigen Zeit komme ich ins Grübeln. War das vergangene Jahr so, wie ich es mir gewünscht habe? Zweifel machen sich breit. Selbstzweifel. Wie kleine Dämonen in mir drin. Etwas ist mir nicht gelungen. Wieder nicht. Manche Menschen suchen am Ende des Jahres Geister heim. Die Geister der Wehmut oder der Trauer. Da war etwas, das ist vorbei. Und es kommt nicht wieder.

Die Zeit der Raunächte

In den Einkaufsmeilen unserer Städte geht es zeitgleich rund. Geschenke, die nicht passen, werden umgetauscht. Schuhe, die eine Nummer zu klein sind. Das PlayStation-Spiel für den Enkel, das er schon längst hatte. Manches werde ich aber nicht so einfach los.

2024 hat mir einiges geschenkt, was ich mir nie gewünscht habe.

Das Leben hat mir Dinge geliefert, die ich so nicht bestellt hatte. Weltpolitische Entscheidungen. Kriege. Überhitzte gesellschaftliche Debatten. Auch persönliche Verluste. Wege, die ich unbedingt gehen wollte und dann doch nicht gegangen bin. Am Ende des Jahres lastet das alles besonders schwer auf meinen Schultern.

Perchtenläufe: Kenne ich meine Dämonen?

Im alpenländischen Raum gibt es seit vielen Jahrhunderten den Brauch der Perchtenläufe. Schaurige Gestalten ziehen in den Raunächten zwischen Weihnachten und Dreikönig durch die Straßen. Mit Lärm und Getöse, riesigen Masken, zotteligen Kostümen aus Ziegenfell. Perchten, so der Volksglaube, sollen die bösen Geister und Dämonen des alten Jahres austreiben. Ich glaube nicht an Geister.

Aber ich merke: Die Perchten halten mir den Spiegel vor. Kenne ich meine Dämonen? Was hat Besitz von mir ergriffen, obwohl es mir nicht guttut? Welche inneren und äußeren Stimmen tönen so laut, dass ich meine eigene Stimme und die von Gott nicht mehr höre?

Mit bösen Geistern und Dämonen hatte es auch Jesus zu tun.

"Und sie kamen ans andre Ufer des Meeres in die Gegend der Gerasener. Und als er aus dem Boot stieg, lief ihm alsbald von den Gräbern her ein Mensch entgegen mit einem unreinen Geist. Der hatte seine Wohnung in den Grabhöhlen. Und niemand konnte ihn mehr binden, auch nicht mit einer Kette; denn er war oft mit Fesseln an den Füßen und mit Ketten gebunden gewesen und hatte die Ketten zerrissen und die Fesseln zerrieben; und niemand konnte ihn bändigen. Und er war allezeit, Tag und Nacht, in den Grabhöhlen und auf den Bergen, schrie und schlug sich mit Steinen.

Da er aber Jesus sah von ferne, lief er hinzu und fiel vor ihm nieder, schrie laut und sprach: Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesus, du Sohn des höchsten Gottes? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht! Denn er hatte zu ihm gesagt: Fahre aus, du unreiner Geist, von dem Menschen! Und er fragte ihn: Wie heißt du? Und er sprach zu ihm: Legion heiße ich; denn wir sind viele. (Mk 5,1-9)

"Denn wir sind viele". Da läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Das klingt wie in einem Horrorfilm. Ich stelle mir vor, wie die Dämonen im Chor aus der Kehle des Mannes rufen. "Denn wir sind viele". Gruselig. Mir läuft es auch deshalb eiskalt den Rücken hinunter, weil ich merke: Ja, es sind tatsächlich viele.

Auch die bösen Geister unserer Zeit treten im Pulk auf. Da ist nicht die eine Krise, die mir die Luft abschnürt. Da ist eine ganze Legion. Wo kommen die alle her? Und wie werden wir die wieder los? Oder sind sie gekommen, um zu bleiben?

Lebensgefühl Ohnmacht

Aus Gesprächen weiß ich: Das ist ein Lebensgefühl, das gerade viele teilen. Ohnmacht. Wie bei dem besessenen Mann in seiner Grabkammer. Was er auch tut, er wird seine Geister nicht los. Sie sitzen ihm im Nacken. Er kann schreien und um sich schlagen, wie er will. Und dann verletzt er sich selbst. Zielt vielleicht auf das Andere, auf das Böse. Und trifft sich. Das ist das Kuriose.

Wenn ich als Mensch besessen bin von Gewalt, von Hass – dann nehme ich selbst als Erster Schaden.

Dämonen sitzen uns im Nacken. Nur: Die eigenen sehen wir so schlecht. Aber da, der andere: der ist von allen guten Geistern verlassen. Weg mit dem. Wer stört, wird abgetrennt. Wir verkriechen uns in abgeschottete geistige Höhlen, umgeben uns in digitalen oder analogen Blasen am liebsten mit Gleichgesinnten und deuten aus sicherer Distanz mit dem Finger auf andere. Besessen, von Sinnen – das sind die.

Nichts fürchten böse Geister so sehr wie die Liebe

Und dann kommt einer, der hält sich nicht an menschliche Logik. Der trampelt einfach über die Grenzen, die die Menschen zwischen sich hochgezogen haben. Er geht hin. Er nimmt Kontakt auf, wo andere lieber Ketten anlegen. Er berührt. Und der Dämon weiß genau: Jetzt geht es mir an den Kragen. Darum schreit er Jesus an: "Quäl mich nicht!"

Es ist damals wie heute: Nichts fürchten böse Geister so sehr wie die Liebe.

Da vergehen sie wie Vampire im Sonnenlicht. Jesus lässt sich nicht verscheuchen oder einschüchtern. Er bleibt. Er bleibt bei dem Menschen, der so zerrissen ist und so ängstlich und so verwirrt. Wie wir. Er kommt und er bleibt. Dort, wo die Dämonen zu Hause sind. Bei uns.

Der Dämon bat Jesus sehr, dass er sie nicht aus der Gegend vertreibe. Es war aber dort am Berg eine große Herde Säue auf der Weide. Und die unreinen Geister baten ihn und sprachen: Lass uns in die Säue fahren! Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren sie aus und fuhren in die Säue, und die Herde stürmte den Abhang hinunter ins Meer, etwa zweitausend, und sie ersoffen im Meer. Und die Sauhirten flohen und verkündeten das in der Stadt und auf dem Lande. Und die Leute gingen, um zu sehen, was da geschehen war, und kamen zu Jesus und sahen den Besessenen, der den Geist "Legion" gehabt hatte, wie er dasaß, bekleidet und vernünftig, und sie fürchteten sich. (Mk 5,10-15)

Als der Besessene ruhig, angezogen und vernünftig dasitzt, kriegen die Leute Panik. Wieso? Ist doch gut! Happy End. Alles wieder in Ordnung. Vielleicht ahnen sie: Das Gegenteil ist der Fall. Ordnung, das war: Wir sind so. Und der ist anders. Eigentlich stellt Jesus eine Un-Ordnung her. Denn, wenn die Dämonen nicht mehr an ihrem Platz sind, wo tauchen sie dann als Nächstes auf? Wer von uns ist der Nächste, der an die Ränder der Gesellschaft verbannt wird? Das macht Angst. Weil wir uns kennen. Wir lieben Schubladen. Wir wissen genau, wer in unserer Gesellschaft die Verrückten sind.

Und dann kommt Jesus und wirft alles über den Haufen. Und plötzlich sehen wir: In jedem Menschen steckt mehr. Plötzlich gibt es keine klaren Feindbilder mehr. Dabei hatte man sich so schön eingerichtet in seiner Weltsicht. Plötzlich ist der, den ich gerade noch als gewaltsam und unberechenbar abgestempelt hatte, bei genauerem Hinsehen ganz anständig. Und aus dem, von dem alle wussten: "Aus dem wird nie was" – wird was.

Jesus zeigt, was im Menschen verborgen liegt

Ich kenne jemanden, der musste 75 Jahre alt werden, um festzustellen, dass er singen kann. Ein Leben lang war da die Stimme des Lehrers aus der Grundschule im Kopf: Du bist so unmusikalisch, da sind Hopfen und Malz verloren. Wie ein böser Geist hatte es Besitz von ihm ergriffen. Bis, Jahrzehnte später, die Leiterin des Kirchenchors ihm die schönsten Töne entlockt.

Ich kenne einen jungen Syrer, der voriges Jahr in Deutschland Asyl beantragt hat. Er erzählt mir, dass er Angst hat. Dass es nichts mehr wird mit seinem Leben. Dass er wohl zur falschen Zeit am falschen Ort geboren wurde. Inzwischen macht er eine Ausbildung zum Solartechniker. Er hat die Hoffnung wiedergefunden und seine Augen leuchten. Wie verwandelt sieht er aus.

Es ist die Zeit der Raunächte. Im alten Volksglauben heißt es, dass in diesen Nächten Geister ihr Unwesen treiben. Die überlasse ich mal schön den Perchten. Ich stürze die Dämonen der Spaltung und der Entmutigung hinunter in den See. Mag sein, dass ich sie nie ganz loswerde. Aber ich muss sie nicht noch einladen, von mir Besitz zu ergreifen.

Gott: Ein Geist, der belebt

Und ich will Gottes Geist in mich einziehen lassen. Das ist ein Geist, der belebt. Der Raum gibt. Für alles, was sich da in mir entfalten will. Sehnsüchte, Träume, Möglichkeiten. Für Versöhnung, wo ich sie nicht mehr erwarte. Für Annäherung, wo die Trennung ausgemacht schien. Das Jahr ist fast vorbei. Aber dafür ist es nie zu spät.

ZDF-Gottesdienst "Die guten Geister" mit Alex Brandl

Auch im Gottesdienst aus der Stephanuskirche in München zieht Pfarrer Alexander Brandl eine Verbindung zwischen dem Brauchtum der Raunächte und Jesus, der die unreinen Geister vertrieb. Den gesamten Gottesdienst hier in der ZDF-Mediathek ansehen.

Pfarrer Alex Brandl ist hier auch auf Instagram aktiv.

Kommentare

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Florian Meier am Di, 31.12.2024 - 01:55 Link

So ein Dämonenglauben mag sehr einleuchtend und plastisch und im Rahmen der Volkstradition ganz unterhaltsam sein. Allerdings bin ich doch froh, dass böse Geister als Erklärung von Übel weitgehend als ueberholt gelten. Vom Glauben an Geister ist es zur Geistersaustreibung nicht weit und die reicht von harmlosen Karnevalstraditionen bis hin zu weniger erfreulichen Hexenverfolgungen auch heute noch. Weniger spektakuläre Erklärungen wie Drogenkonsum und medizinische Ursachen, Sozialisation und Traumatisierung sowie ein Stück weit "artgerechtes" Aggressionsverhalten des Menschen sind für das Verständnis oft hilfreicher und lösungsorientierter statt Patentrezepte a la: Liebe bannt das Böse, die den Einzelnen überfordern können und ohnehin schwierige Umstände moralisch aufladen. Auch wenn die Kirche das Übernatürliche ein Stück weit zumindest als Möglichkeit braucht, ist eher ein sparsamer Umgang damit angezeigt um nicht dem Aberglauben zu verfallen. Hier ist mir die protestantische Nüchternheit lieber als farbenfrohe alpenländische Geistershow. Das heißt nicht, dass man Kindern Verkleidungsspaß nicht gönnen soll und den Traditionalisten ihr Brauchtum, solange man es als Spiel oder historische Referenz ansieht und nicht Angst als Nachtmittel neu etabliert.

Florian Meier am Di, 31.12.2024 - 02:24 Link

Machtmittel nicht Nachtmittel... ob da Freud oder der Buchstabendämon seine Finger im Spiel hatten oder schlicht die Schlampigkeit des Kommentators offenbart wurde, überlasse ich dem werten Leser zur Beantwortung.