Als Böhme im November 1624 in Görlitz starb und auf dem Nikolaifriedhof beigesetzt wurde, musste der Stadtrat die Kirchenvertreter zwingen, eine Grabrede für den verhassten Schuster und Denker zu halten. Und nach wenigen Tagen wurde dann Böhmes Grab von einem aufgehetzten Mob sogar geschändet. Was damals mit dem Grab genau passierte, weiß man nicht.
Wer war Jakob Böhme, der mit seinen Schriften über Gott und die Natur und dem Erkenntnisweg des Menschen seine Heimatstadt so in Aufruhr versetzte? Durch die Tiefe seiner Schriften hatte Böhme die Seichtheit des Amtskirchengeistes ziemlich schonungslos offengelegt. Seinen Gegenspieler, den Oberpfarrer Gregor Richter, reizte das bis aufs Blut. Böhme hatte Glück, dass er mit einem langjährigen Schreibverbot davonkam.
Geboren wurde Jakob Böhme 1575 im nahen Seidenberg in Schlesien. Obwohl er irgendwann das erlernte Schusterhandwerk aufgab und als Handelsreisender unterwegs war, war er weder weit gereist noch akademisch gebildet. Aber es muss lange in ihm gegärt haben, was er sich 1612 mit "Aurora oder Morgenröte im Aufgang" von der Seele schrieb. Und was er da aufschrieb, über das, was er in mystischer Schau und im Nachdenken darüber erfahren hatte, das schrieb er eigentlich nur für sich selbst auf. Doch dann bekam ein Freund und Gönner den Text in die Hand (obwohl der noch Fragment war) und ließ ihn verbreiten.
In Görlitz warnte man vor dem "falschen Propheten"
Als Pfarrer Richter und die Görlitzer Kirchenoffiziellen davon Wind bekamen, ließ der Stadtrat die Originalhandschrift konfiszieren. Böhme kam kurzzeitig in Haft. Der Schuster hatte einflussreiche Freunde. Er kam wieder frei, doch um ein Schreibverbot in allen kirchlichen Dingen kam er nicht herum. Oberpfarrer Richter warnte die Görlitzer Gemeinde von der Kanzel herab vor dem "falschen Propheten". Und die "Aurora" blieb für immer Fragment.
Weil er auf Deutsch schrieb, hat ihn der große deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) als ersten "deutschen Philosophen" bezeichnet. Fasziniert hat Hegel das "dialektische" Denken Böhmes in Gegensätzen und ihrer Aufhebung.
Für den Görlitzer Schuster war klar, dass das Licht nur Licht ist, wo und wenn es Finsternis gibt.
Böhmes Sprache hat Hegel gleichwohl als "barbarisch" bezeichnet, was vielleicht ein wenig unfair ist. Böhme, der kein Latein konnte, musste sich seine "philosophische" Sprache erst gewissermaßen selbst schaffen. So stecken, wenn er darüber nachdenkt, wie die Welt beschaffen ist und warum Leben Leiden ist, für den Autodidakten von der Görlitzer Schusterbank in dem Wort "Qualität" auch die Wörter "Qual" und "Quelle": Die Quelle des Heils ist für ihn auch im Leid und in der Erkenntnis der "Natur" zu finden.
In der Wissenschaft – bei ihm heißt sie "Szienz" nach dem lateinischen Wort "scientia" – steckt für Böhme auch ein "Ziehen" aus diesem Leiden hin zu Gott: der göttliche Rettungswille in Jesus. "Wo du nur hinsiehest, da ist Gott", schrieb er; aber ein Pantheist, wie man ihm vorgeworfen hat (also einer, der die Natur mit Gott gleichsetzt), war Böhme nicht. Für ihn war die Natur Selbstoffenbarung Gottes und die Erkenntnis der Natur der dem Menschen zugängliche Weg der Gotteserkenntnis.
Böhmes eigenartige Sprache macht seine Texte zu einer anstrengenden Lektüre
Wo in der Welt alles in Gegensätzen zu finden ist, in Heil und Unheil, Licht und Finsternis, da ist diese doch von Gott und auf eine dem Menschen letztlich nicht zugängliche Weise verbunden und vereint. Böhme nennt das in seinen Schriften den "Ungrund". Denn: "Man kann nicht von Gott sagen, dass Er dis oder das sey, böse oder gut, dass er in sich selbst Unterschiede habe." Gott sei eben ohne "Qualität" – "ein ewiges Nichts". Mit derlei mystischen Erfahrungen und Formulierungen tat sich Kirche fast zu allen Zeiten schwer.
Böhmes eigenartige Sprache macht seine Texte zu einer anstrengenden Lektüre. Auch deswegen ist er immer einer am Rand der Geistesgeschichte geblieben. Trotzdem schlagen die faszinierend-kreativen Werke des Görlitzer Schusters seit 400 Jahren für immer neue Generationen inspirierende Funken.
So setzte sich beispielsweise der romantische Dichter Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1772-1801) intensiv mit Böhme auseinander. Und nicht ohne Grund spielt die Morgenröte im Werk der Maler Philipp Otto Runge (1777-1810) und seines Freunds Caspar David Friedrich (1774-1840) eine so wichtige Rolle. Ab 1919 gehörte Böhme-Fan Johannes Itten (1888-1967) zu den Künstlern, die die Anfänge des Weimarer Bauhaus prägten.
Die Welt der radikalen Pietisten
An das kirchliche Schreibverbot hielt sich Böhme nur ein paar Jahre. Von 1618/19 bis zu seinem Tod beginnt eine zweite und schließlich eine geradezu manisch produktive dritte Werkphase. In seinem zweiten Werk "Von den drei Prinzipien" (1619) spekulierte er über eine finstere Welt (Gottvater), eine Lichtwelt (Christus) und die reale Welt als "Wiedergeburt in Christo". Sein Gedankenkonstrukt stellt er als dreidimensionale Kugel dar, Böhmes "Philosophische Kugel". Doch zum wahren Geist der Erkenntnis gelangt für Böhme nur, wer in Christus wiedergeboren wird.
Aber Gottvater ein "Nichts", ein Finsterling? Kein Wunder, dass Oberpfarrer Richter die Zeitgenossen gegen den vermeintlichen Ketzer Böhme so aufhetzen konnte, dass man ihm nicht einmal die Ruhe im Grab gönnte.
Heute markiert ein Findling auf dem Görlitzer Nikolaikirchhof Böhmes Grab. Doch ist es womöglich leer? Thomas Isermann von der Internationalen Jacob-Böhme-Gesellschaft geht auch den kleinsten Spuren und Entdeckungen rund um den frommen Görlitzer Schuster-Philosophen nach. Zufällig ist Isermann dabei auch über eine rätselhafte Bemerkung zur Böhme-Grabstätte aus dem Jahr 1717 gestolpert. Ein unbekannter Böhme-Fan hat sie in einem 300 Jahre alten Band mit dessen Schriften hinterlassen. Er schrieb auf die leere Rückseite des Görlitzer Stadtplans (siehe Seite 5), der in einem der Bände abgedruckt ist, und gibt offenkundig eine Vorort-Recherche knapp 100 Jahre nach Böhmes Tod wieder.
Demnach habe der damalige Totengräber irgendwann in den Jahrzehnten nach Böhmes Tod versucht, dessen Grab zu öffnen, sei aber nur auf Steine gestoßen, "daß ihm endlich die allzu viele Mühe verdroßen, und es dahero habe bleiben lassen, zumahlen Ihme auch der Bürgermeister Knorr, deme er solches angezeiget, gesagt: Laßet ihr Böhmens Grab ungestöhret Er hat seinen Richter."
Böhme-Drucke aus den Niederlanden
Der erwähnte Bürgermeister Samuel Knorr von Rosenroth (1657-1720) ist ein Verwandter des Universalgelehrten und Kirchenlieddichters Christian Knorr von Rosenroth (1636-1689). Aber was bedeutet die Bemerkung Knorrs? Und was der Befund eines mit Steinen so verdichteten Grabs, dass man es nicht öffnen konnte? War es dem Totengräber nur zu mühevoll, weiterzugraben? Oder verbirgt sich mehr dahinter? Immerhin ist da ja die gut belegte Schändung des frischen Böhme-Grabs. Vor allem ist die Notiz der Beleg, dass Eingeweihte immer wussten, wo Böhmes damals und lange danach ungekennzeichnetes Grab lag.
Böhme-Experte Isermann hat gute Gründe, die Herkunft der Notiz im Umfeld der radikal-pietistischen Bewegung der damaligen Zeit zu vermuten. In diesen Kreisen verbreiteten sich Böhmes Schriften bald nach seinem Tod wie ein Lauffeuer – nicht nur in Deutschland.
"From thy dark Cell now great Behemius rise!" – Diese fast schon magische Beschwörung einer Auferstehung des toten Jacob Böhme aus seiner Grabeszelle findet sich in einem Text der Mystikerin und pietistischen Visionärin Jane Lead (1623-1704) von 1696. In dem Jahr gründete die englische Böhme-Begeisterte zusammen mit John Pordage (1607-1681), einem anglikanischen Priester, Mystiker und Astrologen, die Londoner "Philadelphian Society" (Philadelphische Sozietät).
Wie kamen die Schriften, Gedanken und Böhmes Grab nach London?
Der Görlitzer Schuster spielte für den extremen Rand des Pietismus im 17. Jahrhundert jedenfalls eine so wichtige Rolle, dass er manchen Historikern als "Vater des radikalen Pietismus" gilt. Für die Verfechter der lutherischen Orthodoxie war der Kampf gegen Jakob Böhme und seine Anhänger, generell das Verhältnis zum "Schuster von Görlitz", geradezu zum Prüfstein der Rechtgläubigkeit.
Der vielleicht bekannteste Vertreter des Pietismus, Philipp Jacob Spener (1635-1705), klagte:
Sobald ein Theologe "auf das rechtschaffene Wesen in Christo" Wert lege, werde er jetzt nicht nur des "Weigelianismus" verdächtigt, "nun kommt die Bömisterey dazu".
Valentin Weigel (1533-1588) war ein sächsischer evangelischer Theologe und mystisch-theosophischer Schriftsteller des 16. Jahrhunderts. 1624, im Todesjahr Böhmes, wurden seine Schriften in Chemnitz öffentlich verbrannt. Er berief sich vor allem auf Meister Eckart und Johannes Tauler, sah sich Thomas Müntzer, Kaspar Schwenckfeld und den Täufern von Münster verbunden. Die innere Verwandtschaft von Jakob Böhme und Valentin Weigel vor ihm nachzuzeichnen hat auch der Anthroposoph Rudolf Steiner 1913 in einem Aufsatz über die Mystik versucht.
Philipp Jacob Spener brach nie mit der Amtskirche. Aber auch er prangerte Missstände und mangelnde Bibelkenntnis der Gläubigen an. In "Pia Desideria oder Herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche" (1675) schlug er umfassende Reformen vor. Er förderte auch die Hauskreis-Bewegung. "Collegia pietatis", sogenannte Konventikel, sollten als "ecclesiola in ecclesia" (Kirchlein in der Kirche) Frömmigkeitspraxis einüben, verbreiten und vertiefen.
Segen und Fluch der Konventikel-Bewegung liegen in einem urprotestantischen Motiv nahe beinander: Zwischen tiefer Herzensfrömmigkeit des Einzelnen in kleinen Gemeinschaften und Sektierertum (inklusive Tendenz zur Kirchenspaltung) liegt nur ein schmaler Grat.
Engelsbrüder und Engelschwestern
Der Regensburger Johann Georg Gichtel (1638-1710) war einer derjenigen, die dafür sorgten, dass Böhmes Schriften nicht in Vergessenheit gerieten und für ihre Verbreitung weit über die Grenzen Deutschlands hinaus sorgten. Johann Gichtel war der Sohn eines Steuerbeamten in der Reichsstadt an der Donau und ging nach Straßburg an den Rhein, um zunächst Theologie zu studieren, wechselte dann aber zur Rechtswissenschaft. Als er 1664 nach Regensburg zurückkehrte, legte er sich mit den evangelisch-kirchlichen Autoritäten der Stadt an. Vom pietistischen Geist schwer erfasst, wetterte er gegen das "Maulchristentum" seiner Zeit und vertrat das Ideal eines weltabgewandten Christentums, das ganzheitlich die Nachfolge Christi verwirklichen sollte. Aus seiner Heimatstadt ausgewiesen, floh Gichtel in die Niederlande, damals ein relativ freies intellektuelles Kraftzentrum Europas mit einem enormen Ausstoß an Publikationen, auch in Deutsch.
Dort vertiefte Gichtel seine Auseinandersetzung mit religiösen Schriften der Mystik. Jakob Böhme tat es ihm besonders an. 1682 gab er die erste Gesamtausgabe von dessen Werken heraus. Der Band, in dem sich die rätselhafte Notiz zu Böhmes Grab befindet, wurde 1715 in Hamburg durch Otto Glüsing gedruckt, seinerseits ein glühender Anhänger Gichtels. Seine Böhme-Edition ist textgleich mit der Gichtels, hat nur ein etwas anderes Layout.
Aber auch in den Niederlanden eckte Gichtel mit seiner harten Kirchenkritik an. Aus Zwolle ausgewiesen, zog er weiter nach Amsterdam, wo er fortan in einer frommen Kommune lebte.
Allein durch Spenden finanziert und zölibatär, wohlgemerkt, denn für Gichtel konnte der wahre Christ allein mit der himmlischen Weisheit, der "Sophia", verheiratet sein, einem klar von Böhme inspirierten Begriff. Das fromme Aussteigerwesen nannte Gichtel "Melchisedek-Priestertum".
"König der Gerechtigkeit"
Melchisedek – der Name bedeutet "König der Gerechtigkeit" oder "Mein König (Gott) ist Gerechtigkeit" – war jener Priesterkönig des alten Israels, der als erster Brot und Wein opferte, wie das 1. Buch Mose berichtet: "Melchisedek, der König von Salem, brachte Brot und Wein heraus. Er war Priester des Höchsten Gottes." (14, 18) An dieser Bibelstelle hat sich eine erstaunlich kreative Wirkungsgeschichte entzündet – nicht nur in der Gnosis, auch in der pietistischen Theosophie. Gichtel verband die Vorstellung eines allgemeinen Melchisedek-Priestertums mit seiner Kirchenkritik. Voraussetzung für diese christusförmige Existenz sei die Hochzeit mit der himmlischen Sophia. Christen könnten daher nicht heiraten, sondern müssten sexuell asketisch und darüber hinaus in Armut leben. Wie Christus bringe sich der Christ durch den Lustverzicht selbst zum Opfer, um andere, auch Verstorbene, von ihren Leiden zu befreien.
Diese "Theosophia practica", die er lehrte, praktizierte Gichtel selbst. Er machte mystische Erfahrungen und beschrieb Visionen. Die Heiligung des (eigenen) Lebens fordere harte Selbstverleugnung und Verzicht auf jegliche irdische Lust von jedem Christenmenschen. Das war die Überzeugung der Gichtelianer, die sich trotz seines offenbar ziemlich rechthaberischen Charakters um den pietistischen Mystiker scharten.
Die Kommunen, die sich auf ihn beriefen, nannten sich Engelsbrüder (und -schwestern), weil sie durch die Praxis der Selbstheiligung rein wie die Engel zu werden hofften. Mit seiner asketischen Lehre inspirierte Gichtel viele, teils sonderbare Kreise und Konventikel. Welche Auswüchse die pietistische Konventikelei haben konnte, aber auch welcher Hass vonseiten der Mehrheitsgesellschaft diesen Frömmigkeits-Hippies der Barockzeit entgegenschlug, zeigt die Geschichte der "Buttlarschen Rotte" um Eva Margarethe von Buttlar.
Sie wurde 1670 in Barchfeld in Thüringen geboren und mit 17 Jahren an einen Prinzenerzieher am Eisenacher Hof verheiratet, den sie später verließ, um eine fromme Kommune zu gründen. Was man über ihre Gruppe weiß, weiß man aus den Prozessakten, die mehr über die Vorurteile und den Hass der Bevölkerung berichten als davon, was die fromme Gemeinschaft wirklich glaubte und tat. Tatsächlich waren die noch verheiratete Eva von Buttlar und ein Mann namens Johann Georg Appenfeller ein Paar. Aber ließen die beiden und ein gewisser Justus Winter sich wirklich als Heilige Dreifaltigkeit verehren und hatten Sex mit ihren Anhängern, wie man ihnen vorwarf? Tatsächlich praktizierten sie eine grausame Operation zur Sterilisierung der Frauen, die sogenannte Verschneidung. Das sollte aber nicht folgenlosen Sex ermöglichen, sondern auf die nahende Endzeit vorbereiten.
Weil derlei Dinge – zu Unrecht – auch mit der Böhme-Tradition verbunden wurden, erklärt das, warum der kirchlich-gesellschaftliche Mainstream den Görlitzer Philosophen verdammte, ohne ihn zu verstehen.
Das womöglich leere Böhme-Grab führt also auf die Spur eines Milieus am Rand oder jenseits des evangelisch-kirchlichen Hauptstroms.
Wie hält es die Kirche heute mit Jakob Böhme?
Dass der durchaus lutherisch denkende Görlitzer Schuster im Gedächtnis seiner Kirche so am Rand steht, findet der evangelische Kirchenhistoriker Volker Leppin bedauerlich: "Böhme ist ein interessantes Beispiel dafür, was im Luthertum und im Protestantismus so alles möglich ist, wenn man sich an bestimmte Ansätze Luthers erinnert", sagt Leppin, der zugleich Vorsitzender des Böhme-Beirats der Stadt Görlitz ist. Immerhin habe der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland am 1. Juli 1966 einen Evangelischen Namenskalender freigegeben, in dem am 17. November Böhme genannt werde. Doch er bleibe "ein Einzelner – und die Evangelische Kirche täte sicher gut, sich von ihm anregen zu lassen", sagt Leppin. "Böhme gelingt es, biblisches, christliches Denken mit Mystik und Philosophie in einer Weise zusammenzuführen, die neue Sprachwelten eröffnet" – und er könne "helfen, uns von verkrusteten Sprach- und Denkmodellen zu lösen. Genau das brauchen wir."
Kommentare
Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.
Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.
Anmelden