Herr Gronemeyer, Sie formulieren gleich in Ihrem ersten Wunsch für die Kirche im Jahr 2060, dass "weiße Männer" am Ende "das Licht ausschalten". Meinen Sie damit "alte, weiße Männer" in dem Sinn, wie er derzeit gerne als maskulines Feindbild einer überkommenen Zeit genannt wird? Oder geht es tatsächlich um die Hautfarbe?
Reimer Gronemeyer: Ich bin ja selber einer. Es sieht für mich so aus, als wenn sich die Zeit, in der Politik, Kirche, Wirtschaft von alten weißen Männern beherrscht wurden, ihrem Ende zuneigt. Ja, da gab es und gibt es großartige Figuren, aber wir ahnen, dass unsere gegenwärtige Krisenlage mit dem Wirken weißer Männer verbunden ist. Natürlich geht es nicht um die Hautfarbe, sondern um die geballte Macht, die diese Menschengruppe nun einmal hat. Auch in der Kirche: Das Dach der katholischen und evangelischen Kirche droht gerade einzustürzen. Und deshalb braucht es einen Neuanfang. Und da sollten wohl Frauen eine entscheidende Rolle spielen.
Sie wünschen sich, dass die Gemeinde der Zukunft in "wilden Festen" die Wiederauferstehung des Glaubens feiert. Welche entscheidenden Pulse könnten zum Fest laden?
Gronemeyer: Wir haben doch alle das Gefühl, dass wir uns gerade in einer großen Krise befinden, nach der nichts so sein wird wie vorher. Wir kehren nach Corona nicht in die alte Normalität zurück. Das ist schmerzlich. Aber eben auch eine Chance. Der Verfall der Macht-Kirche spielt sich vor unseren Augen in rasantem Tempo ab. Vielleicht beschleunigt Corona diesen Verfall.
Aber dann wird vielleicht der Blick frei auf eine neue Sehnsucht nach Sinn, nach geistigem und geistlichem Leben, nach Liebe. Die Königin ‚Kirche‘ dankt ab, aber der Neuanfang ist möglich. Wir sitzen auf den Trümmern unserer alten Welt. Und weil die alten Mauern zerfallen, haben wir einen neuen freien Blick: Wir brauchen keinen Kirchenpomp, keine nichtssagenden Statements, sondern einen spirituellen Aufbruch. Schluss mit der Machtkirche, her mit einer sinnenfrohen geistlichen Gemeinschaft, in der wir feiern, lachen, tanzen und die in unsere Arme nehmen, die einsam, krank und verzweifelt sind. Feiern in kluger Selbstbegrenzung, die die Gier zum Verschwinden bringt.
Was verstehen Sie unter dem Ideal einer "Kritterkirche"?
Gronemeyer: Das Wort ‚Kritter‘ stammt von der amerikanischen Wissenschaftlerin und Feministin Donna Haraway. Sie suchte nach einem Wort, das den Menschen mit den anderen Lebewesen der Schöpfung zusammenbindet. Wir stehen mitten in einer Epoche der Ausrottung von Tieren und Pflanzen. Die Kirche der Zukunft muss ihre Türen öffnen und wie eine neue Arche Zuflucht für die bedrohten Mitwesen bieten: Wir Christen treten nicht mehr als die Herren der Schöpfung auf, sondern als demütig gesinnte Mit-Kritter. Wir sind nicht mehr die Krone der Schöpfung. Wir legen die Krone ab und befreien uns zu einer geschwisterlichen Haltung.
Wenn Kirche heute "so überflüssig und so notwendig wie nie zuvor" ist, warum ist gerade das "globale Hospiz" eine Chance für die Kirche?
Gronemeyer: Wir ahnen, nein, wir wissen von den Krisen, die uns bevorstehen. Sie sind ja schon da: Um uns herum Menschen, die in Folge der Klimakatastrophe hungern, flüchten, sterben. Die Welt wird in Folge ökologischer und ökonomischer Krisen in Teilen wie ein globales Hospiz aussehen. Das ist die Chance der Besinnung für die Kirchen. Sie könnte sich mit allem, was sie noch hat, zu den Habenichtsen gesellen, bis sie selber zu den Habenichtsen gehört. Es gibt die Menschen, die ‚containern‘. Sie leben von den Resten, die Supermärkte in die Abfalltonnen werfen. Vielleicht müssen wir uns Kirche so vorstellen: Als eine Kirche, die sich von den Resten an Spiritualität, Nächstenliebe, Freundschaft ernährt. Sie wird vom Verzicht gestärkt und von der Gier befreit sein.
Sie erinnern an die frohe Botschaft Jesu als zeitloses Narrativ - worin liegt auch heute noch deren argumentative Durchschlagskraft, die man zeitgemäß verbreiten soll?
Gronemeyer: Die Geschichte vom barmherzigen Samariter wartet ja immer noch auf ihre Realisierung. Wo ist die Nächstenliebe für diejenigen, die nicht zu uns gehören, aber uns brauchen? Schauen wir auf die afrikanische Frau, die auf den Wellen des Mittelmeers im Schlauchboot schaukelt. Oder auf den Musiker, dem Corona die Existenz zerschlagen hat. Oder auf die alte Frau im Rollstuhl, die im Heim keinen Besuch empfangen darf. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter hat überhaupt keine argumentative Durchschlagskraft und sie ist nicht zeitgemäß: Sie ist eine Geschichte, die das Paradies herbeizaubert.
Sie propagieren eine arme Kirche, die im Dunkeln nachhaltig agiert. Wer soll´s dann aber bezahlen?
Gronemeyer: Meine großherzige afrikanische Freundin Rauna, die Kinder von der Straße aufsammelt, Behinderte versorgt und Hungernde füttert, sagt: "Wenn ich nicht alles weggebe, kommt nichts wieder." Und es kommt immer etwas wieder. So wird es der Kirche gehen. Wer soll‘s bezahlen? das ist eine Frage, die nur aus der verbreiteten Glaubenslosigkeit kommen kann. Selbstverständlich weiß ich nicht, wie die Kirche im Jahre 2060 aussehen wird. Aber sie wird mit wenig bezahltem Personal auskommen müssen.
Sollen bezahlte Pfarrer oder Priester für fünfzehn Gemeinden zuständig sein? Das wird kaum gehen. Gemeinde wird vor allem stattfinden – wenn es sie denn noch gibt – als Laienkirche. Besser gesagt: Als Kirche, die vor Ort von Christinnen und Christen getragen wird. Vielleicht wird es wieder Apostel geben wie Paulus, der Zeltmacher war und mit der Botschaft herumreiste? Ich kann mir nicht vorstellen, dass beamtete Geistliche noch eine große Rolle spielen werden. Wahrscheinlich werden auch Oberkirchenräte eine verschwundene Spezies sein. Amtshandlungen? Taufen, trauen, bestatten: das wird eine Sache der Gemeinde sein.
Wenn sich die Kirche "radikal auf die Seite der Schwachen" stellt, läuft sie dann nicht in Gefahr, ausgenutzt zu werden?
Gronemeyer: Was könnte ihr Besseres passieren? Freigiebig kann eine solche Kirche Liebe, Wärme, Zuwendung verteilen. Sie wird sehen, dass es so ist wie bei der wundersamen Vermehrung der Brote: Die Liebe wird nicht knapp. Die Wärme wird mehr. Die Zuwendung ist unerschöpflich. Je weniger Geld und Macht die Kirche hat, desto attraktiver wird sie als ein Ort der ‚Umsonstigkeit‘ sein. Spiritualität wird ‚unverpackt‘ ausgeteilt. Vielleicht ist kein Geld mehr da, um die Kirche zu heizen? Dann trifft man sich eben in Wohnungen.
Ich glaube, das Studium der Urgemeinde wird wichtig. Da war kein Geld, da war kein Amt. Aber da war immer ein Stück Brot, eine Matratze, ein Kerzenstummel für den Gast, der anklopfte. In dem, der da klopfte, sah und erwartete man den Messias, den menschgewordenen Gott. Wir können die Urgemeinde nicht wieder-holen, aber wir können von ihr lernen, wie Gemeinde möglich ist - ohne Amt, ohne Institution, ohne Einfluss.
Wo hat die Kirche im Orchester aus Weltanschauungsanbietern noch eine Chance, als eigenständig gehört zu werden?
Gronemeyer: Warum sollte die Kirche eigenständig sein wollen? Würde sich Jesus nicht vor Lachen ausgeschüttet haben über so eine Frage? Liebe braucht kein Alleinstellungsmerkmal. Die Kirche wird leben, wenn sie nicht versucht, Sieger zu sein. Sie wird um einen Exodus aus den vorhandenen Institutionen nicht herumkommen. Ein Weg durch die Wüste steht ihr bevor. Der Weg durch die Wüste wird nicht einfach. Die Kirche 2060 wird auf das Manna, das vom Himmel fällt, warten. Will sagen: Auf das, was ihr in den Schoss fällt und sie leben lässt.
Und es kann dann wie in der Geschichte von Jesus sein, der in der Wüste vom Teufel versucht wird. Der Teufel bietet ihm die Herrschaft über alle Reiche der Welt, wenn er den Teufel anbetet. Als Jesus sich weigert, treten die Engel herzu und dienen ihm. Was sagt uns heute die Geschichte aus Lukas 4? Die Kirche muss wieder lernen aus der Hoffnung und nicht aus staatlicher Subvention zu leben. Und das könnte großartig gelingen.
Wieso sind Frauen die besseren Führungskräfte und Leitfiguren der Kirche?
Gronemeyer: Das sind sie sicher nicht unbedingt. Die Verlockung von Macht und Gier kann sie genauso packen wie die Männer. Aber wenn ich mich umschaue, dann sehe ich sie in Afrika und hier bei uns, wie sie Kinder von der Straße aufsammeln, wie sie das soziale Leben aufrechthalten, wo der Wärmestrom, versiegt ist. In einer Zeit, in der uns Coronastatistiken um die Ohren gehauen werden: Vielleicht reicht es hinzuschauen auf das, was Männer tun und was Frauen? Und dann könnte eine Statistik, die daraus abgeleitet wird, eine Offenbarung sein.
Wieso haben die Kirchen so versagt, in der Corona-Krise ihre Stärken deutlich zu machen?
Gronemeyer: Vielleicht geht es nicht darum, Stärke deutlich zu machen, sondern um die radikale Solidarität mit den Schwachen? Diakonie und Caritas haben kleingläubig ihre Riesenmacht (sind sie nicht der größte Anbieter von sozialen Dienstleistungen?) versteckt und die Abschließung der Schwächsten vollzogen. Vielleicht haben sie mehr an ihre Sicherheit und an ihr Geld gedacht statt an die Liebe?
Sind die Kirchen zu leise, wenn es um die weltweite Christenverfolgung geht?
Gronemeyer: Wahrscheinlich ja. Ich habe festgestellt, dass ich über Christenverfolgungen, die heute passieren, wenig weiß. Da müssten wir wohl wacher werden. Es gibt allerdings eine weltweite geradezu aggressive Ausbreitung fundamentalistischer Kirchen. Die sind nicht eben tolerant gegenüber Andersgläubigen. Das missbillige ich.
Was entgegnen Sie Menschen, die sich über das Engagement der evangelischen Kirche in der so genannten Seenotrettung ärgern?
Gronemeyer: Ich kann die Ängste von Menschen vor ‚Fremden' bis zu einem gewissen Grad verstehen. Vielleicht müssen wir uns an die ängstlichen Jünger im Boot auf dem See von Galiläa erinnern, die vom Sturm überrascht werden. In ihrer Todesangst wecken sie Jeus und der sagt: "Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr so wenig Glauben?" Sind wir so? Sind wir wie die ängstlichen Jünger? Zukunftsängste, die uns packen, die ja berechtigt sind, kann man nicht mit Gewalt und Repression beseitigen. Wenn wir das machen, backen wir uns eine Hölle.
Warum sollten wir uns davon befreien, dass die Kirche als Institution sichtbar wie ein Staat sein muss?
Gronemeyer: ‚Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig‘ - sagt der Apostel Paulus in Galaterbrief. Eine großartige, eine schräge Verheißung. Je größer und mächtiger die Institution Kirche ist, desto weiter entfernt ist sie von dem, was Jesus wollte.
Ist Nächstenliebe also in ihrer reinsten Form die einzige, endgültige Antwort?
Gronemeyer: Selbstverständlich ja. Ich weiß, wie weit ich selber davon entfernt bin. Ich ahne wie weit wir davon entfernt sind. Aber die Liebe und die Verbundenheit sind der Trost und der Ausweg.
Reimer Gronemeyer
Wie sieht die Zukunft der Kirche aus? Neueste Untersuchungen machen deutlich, dass die Kirchenaustritte bis zum Jahr 2060 dramatisch zunehmen werden. Dies bewirkt einen drastischen Rückgang des gesellschaftlichen Einflusses und einen zwangsläufigen Rückzug aus den breit gefächerten sozialen Aufgaben der Kirchen. Doch die kommende institutionelle Schwäche eröffnet auch eine neue Zukunft der Kirche, eine radikalen Rückbesinnung auf die ursprünglichen Werte des Christentums. Mit den Worten "Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig" aus dem 2. Korinther-Brief entsteht so die Vision von Kirche, die ein Ort spiritueller Erneuerung, gelebter Nächstenliebe und Heimat aller wird, die von den erstarrten Formen der Kirche enttäuscht sind.
Claudius Verlag München, 176 Seiten, 18 Euro.
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