Ich bekomme Gänsehaut und ziehe schnell meinen Talar über das Sommerkleid. Meine schwarzen Schuhe knirschen im Kies. Es ist Mitte Juli und Sarah und Christian werden gleich "Ja!" sagen. Hier draußen, am See. Ob wir vielleicht früher anfangen könnten? Weil es gleich regnen soll? Klar, machen wir.

Ich habe meine Bibel vergessen und muss den Lesungstext aus der Bibel auswendig sprechen: "Die Liebe ist langmütig und freundlich, sie bläht sich nicht auf… Am Ende aber bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, die Liebe aber ist die größte unter ihnen." Puh, hat keiner gemerkt, dass ich die Hälfte weggelassen habe. Nach der Trauung schwebe ich ein bisschen. Ich freue mich immer, wenn Menschen sagen, dass es so anders war, als sie dachten. Ich freue mich, wie man sich eben freut, wenn man seine Arbeit gut gemacht. Und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht zugebe, dass ich bei der Lesung tricksen musste. Aber ich will die Stimmung nicht verderben. Wenn schon mal so positiv von der Kirche geredet wird: Dass es so lebendig war, so fröhlich. Dass ich Dinge gesagt habe, die ins Herz getroffen haben.

Nach Häppchen und Sekt auf der Rückfahrt frage ich mich, wann das eigentlich aufhört. Dass ich als Pfarrerin immer wieder gegen eine Vorstellung bei den Leuten anrennen muss, an deren Entstehung ich gar nicht selber beteiligt war.

Für die meisten Menschen, die ich auf Hochzeiten treffe, ist die Kirche vor allem eines: Weit, weit weg. Sie wirkt auf die Menschen, die zwar noch ihre Mitglieder sind, aber sich nicht mehr mit ihr identifizieren, unnahbar, eingebildet, selbstbezogen - und ja: sie wirkt so, als ob sie die Weisheit mit Löffeln gefressen  und gleichzeitig keine Ahnung vom Leben hätte.

Was ist die Institution Kirche?

Ich glaube, "die Kirche" ist für die meisten ihrer Mitglieder ein großes, glattes Hochhaus. Ein Gebäude mit glänzenden Fassaden, wo man den Eingang nicht findet, wo unten ein Türsteher und ein großer Empfangstresen warten und jemand mit einem Hosenanzug prüfend in eine Liste schaut. Keine Ahnung, was da drauf steht, aber es gibt eine Liste. Es gibt Bedingungen, um in das große, glänzende Hochhaus zu kommen. Und weil man von außen auch nicht sieht, was drinnen passiert, will auch niemand rein.

"Die Kirche"  ist für viele Menschen eben nicht die kühle, ruhige Kirche in der fremden Stadt, in die man hineingespült wird. In der man sich erschöpft auf die Bank setzt, für einen Moment überwältigt ist von ihrer Erhabenheit über das Leben, ein Teelicht anzündet, kurz das schlechte Gewissen spürt, weil man kein Geld einwirft, an Frieda denkt und dann irgendwie anders wieder rausgeht. Das ist dann nicht Kirche. Das ist Glaube. Ausruhen, abkühlen, überwältigt sein, das Brennen im Herzen fühlen, ihm ein Licht geben, wieder rausgehen ins Leben. Das ist Glaube. Aber  dafür braucht man kein Kirchenmitglied sein. Aber weshalb dann?

In den Texten, die gerade über Kirchenaustritte veröffentlicht werden, stehen  viele Antworten auf diese Frage: Dass Menschen Sinn und Orientierung woanders suchen. Dass es besser sei, dem Rückgang in die Augen zu schauen, den Abschied aktiv zu gestalten, "Trauerarbeit" zu leisten. Dann gibt es Ansätze, das Leben der Kirche, ihre Gestalt, ihre Struktur zu ändern.

Vor kurzem hat ein "Zukunftsteam" für die Evangelische Kirche in Deutschland elf Leitsätze veröffentlicht, in denen steht, dass die Kirche digitaler, hierarchiefreier und dynamischer werden sollte. Finde ich gut. Finden alle gut. Fänden wahrscheinlich auch die Leute gut, die aus Versehen mal wieder in einen evangelischen Traugottesdienst stolpern. Sie wissen nur nichts davon. Und das müssen sie auch nicht. Niemanden außerhalb unserer Strukturen interessieren unsere Geschichten von digitaler Verkündigung, Mitgliederzahlen und Religionsunterricht. Allein schon in diesem Text ist zu viel davon die Rede.

Und ganz ehrlich - das sind auch nicht die Geschichten, die ich erzählen will. Ich will andere Geschichten erzählen. Die von der Rettung im Sturm. Letzte Woche, als mir das Leben um die Ohren flog. Die von Jesus, als er einfach weitergeschlafen hat mitten im Sturm. Ich will von der Frau sprechen, die das Gefühl hat, ihre Tochter an Spritzen und Nadeln zu verlieren und an die Ausweglosigkeit. Und nein, ich glaube nicht, dass die Geschichte vom verlorenen Sohn  alle Wunden heilt,  und wir  glücklichere Menschen wären, wenn wir öfter Bibelgeschichten hören würden.

Aber ich glaube, dass "die Kirche" sich diese Geschichten an ihre Fassaden schreiben sollte. Mit Permanent-Marker. Das dürfen keine glatten, spiegelnden Glasfassaden sein. Da müssen Wörter dran: Rettung. Angst. Schatten. Klippe. Mut. Verzeihen. Schiffbruch. Sommerwiese. Kirschkernspucken. Hoffnung. Umdrehen. Liebhaben.

Nichts ist glatt und spiegelnd an Gott. Nichts in der Bibel ist einfarbig, aalglatt, schmutzabweisend. Ich will Splitter in den Fingern haben, wenn ich über Kirchentüren streiche. Mir soll die Farbe an den Händen kleben, wenn ich mich an der Mauer festhalte. Ich will, dass mir die Ohren klingeln, weil die Worte so nachhallen. Die Geschichten, die Menschen sich seit Jahrtausenden von Gott erzählen, reden von den Fehlern, die sie machen und von der Hoffnung, die sie finden. Ausnahmslos.

Geschichten erzählen und vor der Kirchentür sitzen

Eigentlich könnte ich mich als Pfarrerin vor die Kirchentür setzen und diese Worte laut schreien. Wenn ich heiser werde, hole ich mir was zu trinken. Vielleicht bleib ich auch gleich sitzen und rede ein bisschen mit den Leuten. Wenn Regen aufzieht, ziehe ich meinen Talar an. Gieße Wasser ins Taufbecken. Fasse mit den Händen in die Erde am Grab. Der Dreck klebt unter meinen Fingernägeln und dann an der Tastatur, auf der ich eigentlich einen Text über Kirchenaustritte schreiben sollte. Ich sollte schreiben, welche Chancen die Kirche verpasst hat und was man machen könnte.

Ich sollte mir die Hände waschen. Aber jetzt will ich, dass man den Dreck sieht. Ich will, dass man der Kirche den Dreck und die Scherben ansieht, um die sie sich kümmert. Dass sie sich gleichmacht mit dem Dreck und den Scherben des Lebens. Keine Glasfassaden . Lieber in den Scherben der Fassaden sitzen mit all den anderen, die da noch sind. Sich schneiden. Pflaster holen. Zusammenfegen. Sehen, wie sich das Licht in den Scherben bricht. Scherben sammeln und  überlegen, wie es weitergehen könnte. Manchmal brauchen wir dafür ein paar von den Worten, die in der Bibel stehen. Oder in Romanen und Liebesliedern. Dann setzen wir sie neu zusammen und sprechen das Glaubensbekenntnis.

Ich will in einer Kirche Pfarrerin sein, die um ihr Leben kämpft.

Und die weiß, dass alle um ihr Leben kämpfen. Und das auch so sagt. Ich will in einer Kirche arbeiten, deren Personal um Worte ringt und das auch zugibt. Wo Scheitern nicht die Ausnahme ist, sondern die beste Gelegenheit, das Paradies zu verlassen. Ich will die Geschichten erzählen, die dem Leben einen Himmel geben und den Füßen weiten Raum. Ich glaube, nein, ich bin mir sicher, wir brauchen solche Geschichten. Der Glaube kennt sie. Die Kirche kennt sie. Jeder Mensch kennt sie. Schreiben wir sie weiter.

Die evangelische Pfarrerin Sabrina Hoppe über die Kirche der Zukunft.