Als Vater von pubertierenden Kindern überkommt mich gelegentlich eine gewisse Resignation: Was für eine undankbare Rolle! Da mokiert sich die früher so anhängliche Tochter, dass wir Eltern keine Ahnung von modernem Style hätten, während der Sohn grußlos die Tür hinter sich zuhaut.

Das tut nach all den gemeinsamen Jahren weh.

Aber ich weiß natürlich: Es wird sich wieder ändern. Nach der Sturm-und-Drang-Zeit werden wir ein neues Verhältnis finden, auf Augenhöhe, anders als bisher. Als Eltern müssen wir aber loslassen und jetzt einfach da sein, ansprechbar bleiben, liebevoll Treue halten.

Kirchenaustrittszahlen 2019 veröffentlicht

Ich musste an diese Erfahrung denken, als ich die jüngsten Kirchenaustrittszahlen gelesen habe. Es tut weh, wenn so viele Menschen grußlos unsere Kirche verlassen. Menschen, die wir nie kennenlernen konnten, aber auch Menschen, die einmal engagierte Jugendleiter*innen waren, Ehrenamtliche, Eltern, deren Kinder wir vor vielen Jahren getauft haben.

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Sie treten aus, ohne dass wir letztlich genau wissen, warum. Es tut einfach weh, und das dürfen wir uns auch eingestehen. Für was engagieren wir uns all die vielen Jahre, arbeiten bis zum Anschlag, tun unser Bestes als Haupt- und Ehrenamtliche, kämpfen für unsere christliche Sache, die uns so am Herzen liegt? Und dann gehen sie grußlos.

Solche Gefühle sind verständlich.

Aber es gibt vielleicht auch den anderen Blick auf das, was da passiert.

Den Schritt zurück. Vielleicht erleben wir gerade die verspätete Einforderung eines Versprechens, das wir selbst in unserer protestantischen Tradition gegeben haben: Du Mensch allein kannst entscheiden, wie dein Verhältnis zu Gott ist.

Du bist als von Gott geliebter Mensch frei, deinem Gewissen zu folgen und dein Leben zu leben. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, Abschied zu nehmen von der Annahme, dass den Menschen immer und überall kirchliche Begleitung zur Verfügung stehen muss.

Vielleicht müssen wir jetzt auch lernen, mit der Kränkung umzugehen, dass viele für sich das so nicht mehr brauchen.

"Deshalb war nicht alles falsch, was in Kirche bisher gemacht wurde, im Gegenteil"

Ohne das Bild der pubertierenden Kinder überfordern zu wollen: Ich denke, wir kommen als Kirche jetzt an den Punkt, an dem viele Menschen hinter sich die Tür zuschlagen: Es ist jetzt gut, wir kommen allein zurecht. Deshalb war nicht alles falsch, was in Kirche bisher gemacht wurde, im Gegenteil.

Die Freiburger Studie mit ihren Prognosen bis 2060 hat auch ein erstaunliches Maß an Verbundenheit prognostiziert. Selbst wenn wir über diesen Zeitraum an Mitgliedern und Geld zur Hälfte kleiner werden, wären wir immer noch eine der größten Organisationen des Landes.

Wichtig dabei: Mitgliedschaft wird ihren Charakter ändern hin zu echter Freiwilligkeit und Überzeugung.

Das sollte als Chance begriffen werden!

In manchen Online-Foren wird derzeit diskutiert, ob es nicht eine palliative Theologie für eine sterbende Kirche braucht. Ich finde das abwegig. Schon ein Blick in die weltweite Christenheit zeigt, wie viele Kirchen mit viel extremeren Herausforderungen fertig werden müssen. Die meisten evangelischen und viele orthodoxe Kirchen sind wesentlich kleiner und vor allem wesentlich ärmer als wir Evangelische in Deutschland.

Dazu kommen politische Instabilität, Angst vor Gewalt und Zeiten der Bedrängnis, wie derzeit im Nahen Osten. Millionen von Flüchtlingen weltweit können nur überleben, weil die Kirchen vor Ort für sie sorgen – obwohl sie oft selbst kaum etwas haben.

Die Saat des Neuen

Kreuz und Auferstehung sind auch ein Bild für den Weg der Kirche und ihrer Gemeinden. Das Brüchige, das Vergängliche, das Absterbende, all das ist kein Zeichen für endgültiges Ende, sondern es ist die Saat des Neuen, der Boden für frisches Wachstum und der Anfang von Unerwartetem.

Die Gläubigen im Irak oder in El Salvador wissen das, weil sie nur diese Hoffnung haben. Wir waren lange Jahre gut gepolstert und konnten Neues über Haushaltspläne umsetzen. Sterben musste dafür nichts.

Kann es sein, dass wir in unserer Theologie und Predigt auch deshalb so diesseitig geworden sind, weil uns die gemeinsame Erfahrung fehlt, wie eine Kirche durch Karfreitag hindurch neu in Christus wachsen kann?

Wie kann die Zukunft der Kirche aussehen?

Was wird also kommen? Das Kostbarste, was wir den Menschen zukünftig bieten können, ist vielleicht einfach Zeit und Raum – Zeit der inneren Sammlung, Zeit für gute Gespräche, Zeit für neue Perspektiven. Raum für Begegnung, Raum für Resonanz, Raum für Kreativität.

Zeit und Raum, in denen neue mündige Formen des Glaubens wachsen werden. Dann müssten wir uns allerdings selbst erst mal verabschieden von der Atemlosigkeit des kirchlichen Standardprogramms.

Dann entrümpeln wir unsere übervollen Terminpläne in den Gemeindebriefen, verplempern unsere Zeit nicht mehr bei unproduktiven Sitzungen und verstehen uns nicht mehr als „Anbieter“ eines Versorgungsprogramms.

Wir lernen, da zu sein und uns neu auf das einzustellen, was Menschen brauchen.

Menschen werden auch zukünftig scheitern mit ihrem Versuch, Freiheit zu leben. Dann sind wir für sie da. Menschen werden auch weiterhin religiöse Fragen haben. Dann haben wir ein offenes Ohr und sind ansprechbar.

Menschen werden nach ihren Wurzeln suchen. Dann laden wir sie ein, mit uns spirituelle Wege auszuprobieren und nehmen sie mit hinein in das, was wir als lebendig erfahren. Sie werden nach Orientierung fragen. Dann suchen wir mit ihnen gemeinsam in der Bibel nach Antworten.

Wir schimpfen ihnen nicht hinterher, wenn sie gehen, sondern halten die Türen offen: Du bist es uns wert, Mensch. Wir bleiben für dich da.

Weil wir fest zu unserem Glauben stehen, dass du von Gott geliebt bist.