Die Veste Coburg wird heuer 800 Jahre alt. Die wenigen Monate des Jahres 1530, als Martin Luther dort Zuflucht suchen, da er wegen seiner Reichsacht nicht am Reichstag in Augsburg teilnehmen konnte, sind nur eine kurze Episode. Nicht nur zum Reformationstag schlüpfen zwei Coburger daher gerne in historische Kostüme.

Wenn Christoph Liebst in das schwere Wollgewand des Reformators schlüpft, verändert sich etwas. "Dann bin ich nicht mehr der Ruhestandsdekan, sondern Martin Luther, der hier 1530 auf der Veste Coburg ausharren musste", sagt er und lächelt. Seit 2017, als er in den Ruhestand ging, führt Liebst regelmäßig als Luther durch die mächtigen Mauern der Veste. "Das war immer ein bisschen Liebhaberei von mir", erzählt der Theologe, der schon während der Luther-Dekade eng mit den Ausstellungen und Projekten rund um den Reformator verbunden war.

Neben ihm steht Christa Barsch, Leiterin des Führungsdienstes der Veste. Auch sie trägt Kostüm – aber was für eines! In feiner Renaissance-Seide, in Miedern und Haube, verkörpert sie Katharina von Bora, Luthers Ehefrau. "Historisch gesehen war sie nie hier auf der Veste", sagt Barsch. "Aber ich erzähle die Geschichte so, dass sie nach Luthers Tod gekommen ist, um zu sehen, wo ihr Mann so lange gelebt hat."

Zwei Mal Luther, zwei Mal Katharina – das ist das Programm am Reformationstag. Um 11 und 12 Uhr führt Christoph Liebst durch die Räume, um 14 und 15 Uhr übernimmt Christa Barsch. Beide eint ihre Leidenschaft für Geschichte und Glauben – und ihr Publikum.

"Es gibt eine feste Tour mit Stationen", erklärt Liebst. "Aber ich erzähle in Ich-Form, aus der Perspektive Luthers. Das macht es lebendiger." Er spricht über den Alltag des Reformators, der in Coburg nicht predigen durfte, weil er als vogelfrei galt. "Das war für ihn eine frustrierende Zeit", sagt Liebst. "Er war wie ein Trainer, der zum WM-Endspiel nicht mitreisen darf – aus Sicherheitsgründen."

Warum Luther auf der Veste Coburg war

Im Frühjahr 1530 begleitete Luther Kurfürst Johann den Beständigen auf dem Weg zum Reichstag nach Augsburg. Doch der Reformator durfte als vom Kaiser geächteter Mann nicht südlich der sächsischen Grenze reisen. Der Kurfürst ließ ihn daher auf der Veste Coburg zurück – dem südlichsten Punkt seines Herrschaftsgebietes.

Vom 23. April bis zum 6. Oktober 1530 lebte Luther hier, abgeschirmt und bewacht, während in Augsburg die Reichsstände über die Glaubensspaltung berieten. In dieser Zeit stand er über unzählige Briefe in Verbindung mit Philipp Melanchthon, der in Augsburg an der "Confessio Augustana" mitwirkte – dem Bekenntnis, das bis heute das theologische Fundament der evangelisch-lutherischen Kirche bildet.

"Diese Monate auf der Veste waren für Luther eine Zeit des Wartens, aber auch der produktiven Unruhe", erklärt Liebst. "Er hat übersetzt, kommentiert, gepredigt – nur eben nicht öffentlich. Und er hat gelitten unter der Abgeschiedenheit."

Über die Jahre hat sich Liebsts Blick auf den Reformator verändert. "Ich sehe heute viel deutlicher seine Zwiespältigkeit", sagt er nachdenklich. "Er hatte einen unglaublichen ‚Flow‘ – bis zum Bauernaufstand 1525. Danach bricht etwas. Aus dem Revolutionär wird ein Verteidiger der Obrigkeit."

Luther habe mit seiner Haltung den Grundstein für eine obrigkeitshörige Kirche gelegt, die im 20. Jahrhundert sogar gegenüber Hitler versagte, meint Liebst. "Das bleibt ein dunkles Erbe." Trotzdem schätzt er die reformatorische Freiheit, die Luther betonte: "Ein Christenmensch ist ein freier Mensch und niemandem untertan – und zugleich jedermann untertan. Diese Spannung zwischen Freiheit und Verantwortung, die sollten wir nie vergessen."

Christa Barsch als Katharina von Bora
Christa Barsch als Katharina von Bora.

Katharina mit Charakter

Während Liebst die theologische Tiefe sucht, bringt Christa Barsch Emotionen in ihre Führungen. "Ich versuche, den Menschen den Zeitgeist zu vermitteln – was sie bewegte, worüber sie lachten, worunter sie litten."

Katharina von Bora sei für sie eine "Powerfrau". "Sie war charakterstark, klug und unglaublich tatkräftig", schwärmt Barsch. "Für ihre Zeit war sie eine emanzipierte Frau, die selbstbewusst ihre Familie und den Haushalt des Reformators führte."

Dass Kinder bei ihren Führungen mit leuchtenden Augen zuhören, freut sie besonders. "Die Kleinen nehmen das ganz ernst", sagt sie lachend. "Irgendwann fragt immer jemand, wie ich nach 500 Jahren noch leben kann." Ihre Antwort: "Gutes Bier und Gottes Segen."

Doch das Publikum verändert sich. "Viele wissen heute kaum noch etwas über den christlichen Glauben", beobachtet Barsch. "Ich muss mehr erklären, etwa was ein Heiliger ist oder warum Luther überhaupt Reformen wollte. Früher war das selbstverständlich."

Ein Kleid mit Geschichte

Wenn Barsch als Katharina auftritt, trägt sie ein Kleid, das beinahe selbst ein Kunstwerk ist. "Es wurde nach einem Gemälde von Lukas Cranach angefertigt, das drei Jahre nach der Hochzeit entstanden ist", erzählt sie stolz. "Eine Kostümbildnerin, die fürs Theater gearbeitet hat, hat es genäht."

Vier Röcke, eine steife Corsage mit Gestänge, eine Haube auf einer Herren-Badekappe – "da schwitzt man ordentlich", sagt sie lachend. "Im Sommer ist das unmöglich zu tragen." Die Haube sei die einer adligen Frau, bestickt mit Edelsteinen. "Katharina war ja von Geburt adlig – das sollte man sehen."

Trotz kleiner Kompromisse – ein Reißverschluss erleichtert das Anziehen – sei das Kostüm historisch so genau wie möglich. "Wir wollten kein Heimatverein-Projekt, sondern etwas, das dem Original gerecht wird."

Was beide eint, ist der Wunsch, Geschichte spürbar zu machen. "Man kann Bücher lesen – oder man erlebt es", sagt Liebst. Wenn er im Lutherzimmer steht, das Hedwigglas in der Hand – ein Hochzeitsgeschenk des Kurfürsten – und davon erzählt, wie der Reformator in dieser kleinen Stube saß und schrieb, "dann spürt man fast, wie eng und intensiv diese Zeit gewesen sein muss."

Für Barsch ist es ähnlich: "Wenn ich erzähle, dass Katharina schon als Kind ins Kloster kam, mit sechs Jahren, und dann später heimlich floh – dann verstehen die Menschen, was Freiheit damals bedeutete."

Coburg ist für beide ein besonderer Ort. "Es ist die einzige lutherische Gedenkstätte in Bayern, die noch erhalten ist", betont Barsch. "Hier war Luther, hier entstanden die Briefe zur Augsburger Konfession – das ist das Fundament des evangelischen Glaubens bis heute."

Und so werden am 31. Oktober wieder Luther und Katharina über die Veste schreiten, zwischen Sandsteinmauern und Herbstlaub. Er, der Theologe mit dem Witz und dem Ernst eines Mannes, der seinen Luther bis ins Herz kennt. Sie, die Frau mit dem schweren Kleid und dem leichten Lächeln, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen in eine ferne Zeit entführt.

"Geschichte lebt nur, wenn man sie erzählt", sagt Christoph Liebst zum Abschied. Und Christa Barsch fügt hinzu: "Und wenn man sie fühlt."