Schon mein Einschulungsfoto, liebe Leserinnen und Leser, lässt es erahnen: Die Beziehung zwischen Fotoapparaten und mir würde keine einfache werden. Es gibt Menschen, die springen förmlich in jede Kamera. Betrachte ich mein sechsjähriges Ich, sieht es eher danach aus, als hielte es einen Sprung aus dem Bild heraus nicht für die schlechteste Idee. Stattdessen tut es pflichtbewusst, was es danach noch unzählige Male in seinem Leben tun würde: den Anleitungen für ein schönes Bild Folge leisten, so gut es eben geht.

 

Also: Lächeln. Die Füße ordentlich ausrichten, aber nicht so, dass es gestellt wirkt. Den Kopf leicht nach unten, die Schultern gerade, die Finger entspannt und bei allem: bitte nicht verkrampfen. So ist es entstanden, dieses erste offizielle Foto in einer Reihe von Bildern, die durch die Jahrzehnte hindurch einmal mehr, einmal weniger deutlich mein leises Misstrauen gegenüber gezückten Kameras dokumentieren. Woher es kommt, dieses Unbehagen, das auch andere kennen? Dieser Frage ist vor kurzem ein Redakteur im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" nachgegangen. Es sei ja nicht so, dass er sein Spiegelbild nicht möge, schreibt er, nein, daher rühre sie nicht, seine innere Abwehr, auf Bildern festgehalten zu werden. Es sei wohl eben das: weil er festgehalten wird auf Fotos. Eingefroren auf einen Moment, der keine Bewegung, keine Veränderung mehr zulässt.

 

Damit könnte es zusammenhängen, mein Unbehagen, was Fotos betrifft. Dass manche Menschen sich auf Fotos gerne, andere weniger gerne sehen; dass vieles, was fotografiert wird – das Neugeborene, der 90. Geburtstag – wertvolle Erinnerungen schafft: keine Frage! Aber Bilder haben auch die Macht, einen Menschen festzulegen: auf eine Situation, eine Rolle, einen Gesichtsausdruck.  Und das in einer Zeit, in der sich Bilder in Sekundenschnelle auf der ganzen Welt verbreiten. Unwiderruflich. Da ist die kurze Sequenz, das Foto des lachenden Kanzlerkandidaten im Sommer 2021, aufgenommen während seines Besuches bei Menschen, denen die Flutkatastrophe Heimat, Existenz und Angehörige genommen hatte. Er steht im Hintergrund, offensichtlich in ein Gespräch verwickelt, und lacht dabei. Man weiß nicht, warum, sieht dieses Lachen, unangemessen, wie kann er nur, in dieser Situation.

Ein Bild mit Folgen, nicht wieder einholbar. In einem Interview erklärt der Politiker später, wie sehr er diesen Moment des Lachens bereue, und dass die Menschen, die diese Aufnahme gesehen haben, nicht den Menschen gesehen hätten, der er doch eigentlich sei. Aber er könne dieses Bild nicht mehr aus der Welt schaffen. Mediale Pranger. Anders als im Mittelalter sind sie nicht auf einen örtlich festgelegten Marktplatz und einen definierten Zeitraum beschränkt, nein: Sie gelten weltweit und für immer. Schier unmöglich, aus den einmal dort verhängten Urteilen wieder herauszukommen.   

Je suis un autre, singt der Liedermacher Georges Moustaki in den 70er Jahren. Ich brauche seinen zärtlichen Trotz gegen alle Festlegungen heute mehr denn je. Je suis un autre: Ich bin ein anderer. Ein unbeweglicher Reisender, ein wacher Träumender, ein bitterer Optimist, ein fröhlicher Pessimist. Ich ähnele denen, singt Moustaki, die gemeinsam ihren Weg gehen, um etwas zu versuchen und das Leben zu ändern. Und bin doch ein anderer.

Ein Gespräch in der Nacht

 Ich bin ein anderer. In dieses Lied könnte wohl auch der jüdische Gelehrte Nikodemus einstimmen. Das Johannesevangelium erzählt von ihm und seinem nächtlichen Gespräch mit Jesus. Nikodemus ist dabei der, der zweifelt, nachhakt, Fragen stellt – Fragen, die dazu geführt haben, ihn festzulegen auf eine Rolle: Ein typischer Vertreter des schriftgelehrten Judentums, das nicht verstehen wollte und konnte, was Jesus über das Geschenk des Glaubens erzählt hat. Es waren nicht zuletzt solche Pauschalisierungen, Bilder, mit stumpfer Feder gezeichnet, die christlichen Antijudaismus begünstigt haben.

Man kann die Begegnung zwischen Jesus und Nikodemus so verstehen, dass man darin vor allem das Trennende, die Missverständnisse sieht. Ich möchte sie lieber mit Blick auf die Weite der Fragen und Bilder lesen, um die es bei dieser Zusammenkunft in der Nacht geht. In der Nacht, in der Gespräche eine andere Tiefe haben, in der Menschen verletzlicher und empfänglicher sind als am Tag und nach Sinn suchen für ihr Leben.

Nikodemus, auch er: ein Suchender. Und so geht er zu Jesus, und es beginnt ein Gespräch zwischen Gelehrten, reich an Anspielungen, hinter denen sich ganze Gedankenwelten verbergen. Nicht alles leuchtet Ihnen vielleicht gleich ein, liebe Hörerinnen und Hörer, aber das ist ja nicht selten so bei Nachtgesprächen.   

 Nikodemus sprach zu Jesus: Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus der Quelle neu geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt"

Ein Mensch wird geboren – ein für allemal. So stellt es Nikodemus fest. Jeder und jede: eine einmalige Existenz, ein einmaliger Versuch, dem immer gleichen biologischen Schema von Werden, Wachsen und Vergehen unterworfen. Eine Freundin erzählt mir, wie sie im Moment höchsten Glücks, als sie ihr Neugeborenes das erste Mal im Arm hält, auf einmal erstarrt. Weil ihr bewusst wird: Auch dieses Kind wird einmal sterben.

So ist es. Die "Knechtschaft des Verderbens" nennt es die Bibel. Aber zugleich ist da mehr: Da gibt es diese Quelle, aus der ich schöpfen kann, die Überlieferungen des Glaubens – Erzählungen, Gedanken, die mich das Leben, diese Welt mit anderen Augen sehen lassen: Reich Gottes. Da ist dieses besondere Wasser, sprudelnd, voller Energie: Ich tauche ein, wasche den Staub meines Lebens ab, schöpfe neue Kraft. Da ist der Geist, überraschend, unverfügbar, der Anfänge in mein Leben zaubert, unverdient, immer wieder. Mein begrenztes Leben wird eingetaucht in etwas Größeres. Etwas, das keine Grenzen kennt. Nicht einmal die des Todes.      

Lebendig sein

In Bewegung sein. Lebendig. Frei von starren Zuschreibungen. Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel. "Ich bin, der ich bin" so stellt Gott sich selbst vor. Legt mich nicht fest: Nicht auf ein Bild. Nicht auf einen Namen. Nur auf dieses: Ich werde da sein für euch.  

Und Gott ist da für die Menschen, zeigt sich ihnen in den Überlieferungen des Glaubens auf immer wieder andere Weise: Im leisen Säuseln des Windes, im heftigen Brausen des Sturmes. In Menschen, die, von ihm erfüllt, andere in die Freiheit, in die Weite führen. Und er sucht sich diese Menschen nicht danach aus, ob sie mächtig sind und stark in den Kategorien dieser Welt. Er wohnt vor allem in den Herzen der scheinbar Kleinen, Unbedeutenden. Sie macht er groß. Sein Geist weht, wo er will.  

Ich bin, der ich bin: Vermeintlich unverrückbare Bilder und Vorstellungen stellt Gott nach christlicher Überlieferung auf den Kopf: Gott kommt in einem Kind zur Welt. Ein König kann auf einem Esel in Jerusalem einziehen und anderen die Füße waschen. Und ein Mensch ist mehr als seine Rolle, mehr als das Urteil, das andere über ihn gefällt haben.       

Da ist Zachäus, der Zöllner. Er treibt für die römische Besatzungsmacht die Steuern ein, bereichert sich daran. Ein Sünder, sagen die Leute über ihn. Als er hört, dass Jesus kommt, klettert der kleine Mann auf einen Baum, um ihn zu sehen. Und Jesus sieht ihn. Er bleibt stehen und spricht ihn an: "Zachäus. Ich muss heute in Deinem Haus einkehren." So schnell er kann, steigt Zachäus vom Baum, nimmt Jesus in seinem Haus auf, "mit Freuden" heißt es. Und danach gibt er die Hälfte seines Besitzes ab an Arme und entschädigt die, die er betrogen hat.   

Zachäus – ein sprechender Name. Man kann ihn übersetzen mit "rein sein": Ich denke an das lebendige Wasser, von dem Jesus in der Nacht spricht. Ein Bild, das schon das Erste Testament kennt, im Christentum wird es in der Taufe zentral: Abwaschen, was mich beschwert, rein werden, neu beginnen. So, wie es Zachäus tut. Man kann seinen Namen auch in Verbindung bringen mit dem hebräischen Wort für   "erinnern". Dann steht Zachäus für: "Er – Gott – hat sich erinnert". Als Jesus ihn anspricht, weckt er die Erinnerung an Zachäus, wie er eigentlich gemeint ist: Er ist mehr als der Sünder, der Zöllner. Er ist Zachäus, der Mensch, der von seinem Reichtum abgeben und das Leben feiern kann. Und auch Nikodemus ist mehr  als einer, der nicht verstehen will: Später im Johannesevangelium wird erzählt, wie er in einer Auseinandersetzung für Jesus eintritt, wie er schließlich für eine würdevolle Grablegung Jesu sorgt. Wir alle sind mehr, als andere – und manchmal auch wir selbst – von uns meinen.

Ein anderer werden

Aus der Quelle neu geboren werden, sagt Jesus in dem Nachtgespräch.  Das Recht, ein anderer zu werden: So hat es die Theologin Dorothee Sölle genannt. Ein Recht, das der Glaube dem Menschen zuspricht, auch, wenn das manchmal unser Verstehen übersteigt. Ein Geschenk.

Allerdings: Das Recht, ein anderer zu werden, geht damit einher, dass ich Verantwortung übernehme für das, was ich getan oder vertan habe. Eintauchen in lebendiges Wasser bedeutet nicht: Schwamm drüber. Und auch nicht: Alles wird gut. Narben bleiben. Und das Recht, ein anderer zu werden, kann auch nicht hinter dem Rücken derer verwirklicht werden, an denen ich schuldig geworden bin. Das hat gerade Dorothee Sölle betont. Sie hatte dabei besonders den christlichen Antijudaismus, die Verbrechen der NS-Zeit im Blick. In Gesprächen mit Juden, sagt sie, habe sie etwas davon gelernt, was sie "den jüdischen Ekel an der christlichen Vergebung nennen möchte": 

"Eine sehr präzise Empfindung dafür, wie rasch das bei Christen geht, wie schnell sie ihren Gott aus der Tasche ziehen – und alles ist wieder gut, wie verbal das bleibt gerade bei Protestanten, wenn sie Reue sagen oder "verzeih mir", wie verlogen."

Im Herzen neu anfangen: Das ist nicht denkbar, ohne dass ich auch mein Verhalten ändere. Der Glaube zeigt dabei nicht die Lösung. Der Glaube zeigte einen Weg. Dieser Weg kann mühsam sein, steinig und lang. Er findet sein Ziel oft erst im Gehen, und er führt nicht an den Menschen vorbei, die ich verletzt habe. Ihr Schmerz muss im Blick sein. Das wurde auch im Umgang mit der Studie zur sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie deutlich: Es ist fatal, wenn Betroffenen suggeriert wird, sie müssten den Tätern einfach vergeben – und ihre eigenen Verletzungen und bleibenden Wunden dabei hintanstellen.   

Ich werde ein anderer und mache mich auf den Weg. Auf dieses Gehen kommt es an: Auf meine Schritte hin zu denen, denen ich Unrecht getan habe. Auf meinen Sprung herunter vom Baum, so, wie Zachäus, und damit heraus aus meiner Rolle, in der ich es mir eingerichtet habe. Auf meinen Weg hinein in ein Nachtgespräch, so wie Nikodemus, mit allem, was mich umtreibt: mit meinem Suchen, meinen Zweifeln. Mit meiner Bitte um den Geist, dass er mich erneuert. Mit meinem Gebet: Leg mein Gesicht frei, Gott. Mach mich schön.  

Schön sein vor Gott 

Es ist eine Herausforderung: Immer wieder meine Maske abnehmen, mich und mein Herz öffnen. Genauso herausfordernd ist es, den anderen neu sehen zu lernen, ohne die Rolle, die ich mit ihm verbinde, ohne die Urteile, die ich über ihn gefällt habe. Aber was für ein Glück, wenn dann etwas aufbricht, wenn sich etwas verändert dadurch: im anderen, aber auch in mir selbst.

Es ist fast drei Jahrzehnte her, dass ich als Praktikantin in einer Kirchengemeinde war; eine ländliche, traditionsreiche Region. Wir sitzen im Gemeindehaus. Der Konfirmandenunterricht ist fast zu Ende, da fragt der Pfarrer die Jugendlichen noch, wer morgen bei der großen Beerdigung das Kreuz vor dem Sarg tragen will. Einige Finger schießen in die Höhe – in der kleinen Stadt gilt es als eine ehrenwerte Aufgabe. Und da meldet sich auch einer, von dem es keiner erwartet hat: Martin. "Der Martin kann doch das Kreuz nicht tragen!", ruft eine Konfirmandin empört: Martin, dem das Leben bislang kaum Trümpfe in die Hand gedrückt hat, unbeholfen, nachlässig gekleidet, ein Außenseiter. Der Pfarrer überlegt kurz. Dann wählt er aus: "Martin, mach Du es". Am nächsten Tag ist die Friedhofskapelle bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Glocken läuten, die Tür der Kapelle geht auf. Pfarrer und Sargträger kommen herein. Und vorne, aufrecht und in schwarzer Jacke: Martin. Die ganze Trauerfeier über steht er am Altar und hält das Kreuz. Rote Wangen verraten seine Aufregung, vielleicht auch ein wenig seinen Stolz. Er macht seine Sache tadellos, er kann das. Weil einer es in ihm gesehen hat.  

"Wir sind nicht nur die Fragmente, die wir sind – mit aller Kläglichkeit, Halbheit, Dümmlichkeit. Wir sind die, als die wir angesehen werden. Wir sind die, denen der Geist bezeugt, dass sie Kinder Gottes sind. […]Ich muss mich nicht nur mit den eigenen Augen ansehen, die nicht mehr feststellen als die eigene Dürftigkeit. Ich bin angesehen von den Augen Gottes. Unter diesem Blick der Güte Gottes gibt es keine Lebensverdammer mehr.  […] Des fremden Blickes zu bedürfen ist kein Mangel. Unsere Bedürftigkeit ist ­unsere Würde."

So sagt es der Theologe Fulbert Steffensky. Und er sagt auch: "Bedürftige Wesen sind wir nicht nur vor Gott, sondern auch vor den Menschen. Wir brauchen ihren Blick, der uns schön findet; der uns birgt; der uns Freundschaft schenkt; der uns vergibt."

Einen Versuch ist es wert, immer wieder: Meine Bedürftigkeit zeigen und die des anderen erkennen. Mich von den Bildern lösen, die ich von ihm habe. Stattdessen den anderen ansehen als ein Kind Gottes, so, wie auch ich es bin: Ein Kind Gottes, das nicht nur eine Vergangenheit hat, sondern auch eine Zukunft, das Herz zum Himmel hin offen. Ein Kind Gottes, in dem der Schmerz wohnt und die Sehnsucht. Und trotz aller Narben, die das Leben schlägt, ist es schön vor Gott. Was auch immer andere Bilder zeigen.

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.

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