Himmel abhanden gekommen - Yoko Ono I

Irgendwann habe ich den Himmel verloren. Ich weiß nicht mehr genau, wann das war. Auf einmal habe ich ins Leere gegriffen. Der Himmel war weg. Ich habe dann noch eine Weile weitergesucht, etwas tiefer, zwischen den Falten - oder auf der anderen Seite? Nein. Mein Himmel, das kleine Puzzle-Teil, Himmelblau mit Wolkenweiß – war verschwunden.

Jahrelang hat mich dieses Himmelsstück bei jedem Gottesdienst begleitet. Bei einer Kunstausstellung vor etwa zwanzig Jahren habe ich es mitgenommen und später zu Hause in die linke Tasche meines Talars gesteckt.

Das Puzzleteil gehört zur Ausstellung "Peace is Power“, Frieden ist Macht, von der Künstlerin Yoko Ono."Helmets“, also: Helme heißt eine Installation in dieser Ausstellung. Von der Decke herab hängen an zarten Schnüren zahlreiche Militärhelme. Nach oben offen, wie Schüsseln. Jeder Helm ist gefüllt mit zwei Handvoll Himmel, Puzzleteile.

Wir sollen sie mitnehmen, jede Besucherin, jeder Besucher ein Stück Himmel. So soll sich der Himmel verteilen und weltweit wachsen. Wie die Vision: Peace is Power.

Wenn ich dann meinen Talar anhatte und Gottesdienst gefeiert habe, habe ich immer wieder mal nach diesem Himmelsstück gegriffen und es zwischen den Findern gefühlt und mich erinnert.

Und später einmal habe ich Yoko Onos Idee auf ganz andere Weise weitergeführt.

Da haben wir einen großen Gottesdienst zu Christi Himmelfahrt auf der Nürnberger Burg gefeiert, ökumenisch. Körbchen voller Himmelspuzzlestücke wurden rumgereicht, jeder und jede hat sich eines genommen. Du bist der Himmel. Dich schickt der Himmel. Zusammen sind wir die, die etwas vom Himmel auf Erden verwirklichen. Und da saßen wir hoch über der Stadt, nichts als den Himmel über uns. Es ist manchmal so einfach, es könnte so einfach sein: Alle unter dem gleichen Himmel. Weltweit. Und: Peace is Power.

Das Evangelium vom Nicht-in-den-Himmel-schauen

Heute feiern wir Christi Himmelfahrt. In den Kirchen oder auf Hügeln, Berggipfeln, Plätzen im Grünen – und: wo auch immer Sie gerade sind und zuhören.

Vierzig Tage nach Ostern - dieses Fest. Die biblische Geschichte dazu, wie das geschehen sein mag, die klingt fantastisch, himmlisch halt – und ich finde, auf eine Weise doch wieder sehr realistisch.

Jesus zeigt sich nach der Auferstehung immer wieder, er begegnet den Jüngern und redet mit ihnen. Er verspricht ihnen Kraft vom Himmel, Heilige Geistkraft, die über sie kommen wird.

Und als er das gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf, weg vor ihren Augen. Und als sie ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr, siehe, da standen bei ihnen zwei Männer in weißen Gewändern. Die sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht gen Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg gen Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr ihn habt gen Himmel fahren sehen.

Da kehrten sie nach Jerusalem zurück von dem Berg, der Ölberg heißt und nahe bei Jerusalem liegt, einen Sabbatweg entfernt. Und als sie hineinkamen, stiegen sie hinauf in das Obergemach des Hauses, wo sie sich aufzuhalten pflegten: Petrus, Johannes, Jakobus und Andreas, Philippus und Thomas, Bartholomäus und Matthäus, Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Simon der Zelot und Judas, der Sohn des Jakobus. Diese alle hielten einmütig fest am Gebet samt den Frauen und Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern. (aus: Apostelgeschichte 1)

Hey, so viele sind das… und alle zusammen unter einem Himmel und manchmal auch unter einem Dach… Das vergisst man schnell. Christi Himmelfahrt - das ist diese große Geschichte – auf dem Berg, Himmel, Wolke, Engel, unglaublich – und dann? Dann geht´s heim. Zurück zu den anderen. Und die Himmelsgucker bringen lauter Puzzlestücke vom Himmel mit. Für die Jüngerinnen und Jünger und die vielen anderen. Sie verbinden sich neu, der Himmel wächst, sie halten zusammen und erleben: Die Frohe Botschaft breitet sich aus: Christus ist auferstanden und hier in meinem Leben DA. Immer. Wie der Himmel über mir.

Großartig finde ich das. Wirklich Grund zu feiern.

Dabei hat die Geschichte am Anfang ja auch etwas Trauriges, Verstörendes.

Ihr Jesus verlässt sie. Wieder. Endgültig. Gerade erst haben sie ihn wieder bei sich und hören ihm zu, fassen neues Vertrauen ins Leben. Sie fühlen sich wieder sicherer und wohler in ihrer Haut… So stelle ich mir das vor. Sie begreifen: Alles, was gewesen ist, mit Jesus, das war kein fake, kein Irrtum. Alles war, wie es war. Echt.

Dieses Gefühl finde ich sehr kostbar. Einer stirbt, und die Fragen kommen. Stimmen meine Erinnerungen, wie er gewesen ist oder sie, haben wir einander gekannt? Manchmal stellt das Weggehen eines Menschen alles, was vorher gewesen ist, in Frage. Oder auch: Etwas Schlimmes, was geschehen ist, löscht alles Gute von früher aus. Als hätte es das nicht gegeben.

Wenn Eltern sich trennen, kann das so sein, wenn die Liebste dich verlässt oder eine Krankheit deinen Lebensgefährten verändert, fremd werden lässt.

Lauter Geschichten vom Hinterherschauen.

Mir hilft da die Himmelfahrts-Geschichte.

Es geht ums Hinterherschauen und ums Zurückbleiben. Beides gehört zusammen.

Beides hat zwei Seiten. Eine traurige, eine tröstliche.

Hinterherschauen, wenn einer geht. Ich werde traurig, du gehst, ich mache mir Sorgen, wirst du wiederkommen, wird alles gut gehen -und werde ich allein klarkommen… Das ist die eine Seite.

Die andere: Ich merke, mein Herz schlägt, während ich dir hinterherschaue, die Art, wie du gehst, ist mir vertraut, ich erinnere mich an Wege, die wir zusammen gegangen sind. Auf einmal ist das alles da. Unsere Nähe. Wir haben was miteinander erlebt und – das bleibt. Auch wenn du fort bist.

Wir. Sind. Hier.

Und da ist noch was… Da oben auf dem Berg steht nicht einer allein und schaut Jesus hinterher. Gemeinsam stehen sie da und schauen. Das tut gut, eine Person bei sich zu haben, die das alles auch erlebt hat. Die mit dabei war und Trost braucht wie ich – allein das tröstet schon.

Und wir können uns dazustellen. Wir haben Gleiches erlebt und Anderes, Liebe und Trauer und Schmerz, wir sind im Leben immer wieder genauso überfordert wie die Himmelfahrts-Jünger. Und vermissen G*tt bei uns.

Wir sind gemeinsam verlassen. Gemeinsam verwirrt. Und werden weitersehen.

Christi Himmelfahrt schenkt auch ein neues Wir-Gefühl.

Hinschauen, wahrnehmen, weitergehen.

So könnte eine Zusammenfassung lauten.

Denn dann steigen sie herab vom Berg und gehen nach Jerusalem. Es geht weiter. Ihr Leben. Ihr Glauben. Bis heute.

Hier sind wir. Hallo. Hier spielt die Musik. Der Hans-guck-in-die-Luft fällt mir ein, aus dem Struwwelpeter. Vor lauter In-den-Himmel-schauen, fällt er ins Wasser und ertrinkt. Damit sind x Generationen von Kindern erzogen worden: Träum nicht. Also, keine Luftschlösser. Finger weg vom Himmel. Keine Fantastereien. Schau auf den Weg, auf den Boden der Tatsachen. Wir sind hier.

Wesentlich schöner und hilfreicher als beim Struwwelpeter klingt es, wenn Alexa Feser davon singt: Wir sind hier.

Perfect Days

Ja, wir sind hier, liebe Leserinnen und Leser, und leben unser ganz normales Leben. Alltag eben.

Manchmal fällt das schwer. Da denkst du, es müsste mehr sein, es ist nicht gut, nicht interessant genug. Aber: Wir sind hier. Mehr geht nicht. Und mehr muss auch nicht.

Ich habe das mal wieder neu gelernt. Von Hirayama. Er arbeitet als Toilettenputzer in Tokio und ist eine Filmfigur aus dem Film „Perfect Days“ von Wim Wenders.

Hirayama lebt ein ruhiges Leben. Die Tage gleichen einander. Alles ist sehr überschaubar. Er spricht wenig. Jeder Handgriff geschieht selbstverständlich, seelenruhig, konzentriert. Zähne putzen, das Bett richten, die Pflanzen gießen, den Hausschlüssel in die Hand nehmen, im Auto die Musikcassette einlegen. Essen. Toiletten putzen. Fotos machen und sortieren. Am Abend lesen. Alles wiederholt sich. Und immer ist da der Himmel. Wenn Hirayama früh das Haus verlässt, schaut er zum Himmel. Jeden Morgen. Und auch untertags immer wieder. Und lächelt. Es geht da nicht ums Wetter. Es ist der Himmel selbst. Der steht verlässlich über der großen Stadt mit ihren vollen Straßen, den hohen Häusern und den Parks. Er schimmert zwischen den Bäumen durchs Blattwerk. Jeden Tag fotografiert Hirayama diesen Blick in den Blätter-Himmel. Als würde er sich vergewissern: Hier ich – da der Himmel. Immer da. Ich bin nicht allein. Da ist etwas Weiteres über mir. So kann ich meine Enge leben. Und – in ihr das Schöne, Weite, Tiefe entdecken. Und dieses unperfekte und oft schwere Leben auf der Erde lieben.

Nicht aus der Haut fahren, lieber in den Himmel schauen

Also, liebe Leserinnen und Leser, es ist doch erlaubt, in den Himmel zu schauen. Und sogar heilsam.

Paradoxerweise ist es gerade der Blick in den Himmel, der mich erdet.

Und als Christin sage ich: Es ist der Glaube an das Leben nach diesem Leben, der mir hilft, auf dieser Erde zu sein.

Letztlich verbieten die Engel in der Himmelfahrtsgeschichte gar nicht, in den Himmel zu schauen. Ein bisschen ist es so, als würden sie sagen: Gehen Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu sehen. Wie an einem Unfallort.

Ja, es geht nicht ums Sehen, es geht ums GEHEN. Und ums Tun.

Auch das feiern wir an Christi Himmelfahrt. Den Blick in den Himmel und (!) unser Bleiben auf der Erde. Da geht was weiter. Der auferstandene Christus geht weiter. Viel weiter, als sich das irgendwer hätte träumen lassen.

Ich kenne kein besseres Bild dafür als - HIMMEL.

Herr deine Güte reicht, so weit der Himmel ist. (Ps 36,6)

In diesem Himmel will ich mich festmachen. In G*tt. Mit meinem Leben. Mit meinem In-der-Welt-sein.

Denn das ist klar, Menschenleben findet hier unten statt. Und da geschieht Wunderschönes, Beglückendes.

Wie in “Perfect Days“. Am Schluss des Films sieht man Hirayama durch die Stadt fahren - in einen neuen Tag hinein und dazu läuft: It's a new dawn, it's a new day, it's a new life for me. Eine neue Morgendämmerung, ein neuer Tag, ein neues Leben.

Perfect Days voller Hoffnung und Glück und daneben die ganz anderen Tage. Entsetzliches geschieht. Endlose Kriege, Machtkämpfe. Am Himmel Kampfflugzeuge, Bomben fallen vom Himmel. Und die treffen und töten und zerstören.

Und hier in unserem Land manteln sich immer mehr unzufriedene meinungsstarke Leute auf. Rechthabereien, grobes Verhalten, gefährliche und dumme Vorurteile beschädigen und schänden Menschen. Wir sind hier – leben in einer Demokratie. Das WIR ist ein kostbarer Schatz.

Wie können wir noch miteinander reden, respektvoll leben? Es ist zum Aus-der-Haut-fahren.

Ich entdecke in Christi Himmelfahrt ein Gegenbild. Und Trostbild.

G*tt fährt nicht aus der Haut, G*tt haut nicht ab, er wütet nicht über seine Welt.

Er ist in unsere Haut geschlüpft. Hat gelebt, ist gestorben und begraben, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel.

G*tt fährt nicht aus der Haut.

Jesus fährt in den Himmel.

So macht G*tt das.

Wie wäre es, wenn ich bei so manchen Sachen in meinem Leben nicht aus der Haut fahre sondern in den Himmel fahre…

Und darauf vertraue, G*tt ist alles in allem. Keine andere Macht hat mehr Macht.

Oder ganz schlicht: G*tt ist allüberall wie der Himmel. Und das heißt dann auch. Er ist nicht woanders. Und nicht irgendwo nicht.

Nicht in fernen Himmeln, weit weg.

G*tt ist immer.

Himmel ist immer.

Und wenn ich selber das gerade nicht glauben kann, nicht spüre, dann ist es gut, wenn da andere sind, die das stellvertretend tun. Schwestern und Brüder, Künstlerinnen…Zum Beispiel auf ihre Weise noch einmal: Yoko Ono.

Im Himmel laufen - Yoko Ono II

Sie erinnern sich an ihre Himmelspuzzle-Teile? Yoko Ono hat auch mehrere Text-Miniaturen geschrieben, Himmelsstücke, nennt sie sie.

Das Himmelsstück Nummer zehn klingt so:

Der Himmel ist nicht nur über unseren Köpfen.

Er streckt sich bis runter auf die Erde.

Immer wenn wir den Fuß vom Boden heben,

laufen wir im Himmel.[1]

Vielleicht, liebe Leserinnen und Leser, gehen Sie ja heute noch spazieren oder wandern. Denken Sie dann doch mal ganz bewusst: Mit jedem Schritt gehe ich auch im Himmel. Immer wenn wir den Fuß vom Boden heben, laufen wir im Himmel. Auf allen unseren Wegen: Jesus ist dabei, der Himmel, Gott, und so bleiben wir auch mit all unseren Toten verbunden.

Ein Fuß im Himmel, der andere auf der Erde. Auch hier: Christ fuhr gen Himmel./Was sandt er uns hernieder? Hoch, runter… Oben und unten verbinden sich. Es ist kein Entweder-Oder.

Unser Gehen auf der Erde, das Tagtägliche und die schweren Nächte – sie geschehen nicht nur unter G*ttes Himmel, sie geschehen in G*ttes Himmel.

Christ will unser Trost sein. Halleluja.

Mit den alten Worten aus diesem Himmelfahrtschoral schauen wir noch einmal zum Himmel. Inzwischen wissen wir ja, das ist erlaubt.

Christ fuhr gen Himmel./Was sandt er uns hernieder?/Den Tröster, den Heiligen Geist…

G*tt sendet die Heilige Geistkraft. Auf einmal geschieht alles gleichzeitig: Himmelfahrt und Pfingsten. Das Kirchenjahr sortiert die Feste ja immer in die richtige Reihenfolge. Eins folgt aufs andere. Das ist ordentlich und hat seinen guten Sinn. Weil wir ja einen Weg gehen und sich alles im Leben entwickelt. Und doch ist immer alles da, alles geschieht gleichzeitig, nebeneinander, ineinander. Und bei jeder und jedem von uns in einem eigenen Rhythmus und zur eigenen Zeit.

Auch das hat mit dem Hin und Her zwischen Himmel und Erde zu tun.

Jesus verschwindet. Die Geistkraft kommt. Christ will unser Trost sein. Einer stirbt. Die Liebe bleibt. Eine Welt geht unter. Du stehst am Morgen trotzdem auf und gehst in den Tag, hebst immer einen Fuß vom Boden.

Den Himmel kannst du nicht auf Dauer verlieren.

In der Kantate zum Himmelfahrtstag von Johann Sebastian Bach singen sie im Eingangschor:

Auf Christi Himmelfahrt allein/ich meine Nachfahrt gründe/und allen Zweifel, Angst und Pein/hiermit stets überwinde…

Meine Nach-Fahrt, Nachfolge. Wir sind hier. Wie die ersten Jüngerinnen und Jünger und alle, die sich anschließen. Miteinander schauen wir zum Himmel, immer wieder, werden traurig und halleluja-froh und gehen weiter.

 

[1] Yoko Ono, Acorn, Berlin 2014, Haffmans&Tolkemitt GmBH.

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.

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