Vorweg eine Bitte um Verzeihung. Eigentlich müsste ich als evangelischer Christ in diesen Tagen ja etwas über den Reformationstag schreiben – vielleicht auch etwas Halloweenkritisches. Beispielsweise darüber, dass Halloween dem Reformationstag ebenso das Fürchten gelehrt hat wie die Halloweengespenster die Kinder. Also die, die sich nicht fröhlich gruseln, sondern es irgendwie doch mit der Angst zu tun bekommen. Um diese Angst schert sich die Halloweenindustrie natürlich nicht im geringsten.
Aber irgendwie steht mir in diesem Jahr der Sinn nicht nach dem heidnischen Anti-Allerheiligen-Totenfest, sondern nach Allerheiligen. Und vielleicht brauche ich mich dafür gar nicht zu entschuldigen. Denn die Frage, was uns eigentlich heilig ist oder sein sollte, ist ja doch auch aus evangelischer Perspektive interessant.
Was ist Heiligkeit?
Man könnte die Frage, was es mit dem Heiligen auf sich hat, ziemlich schnell erledigen, und zwar dadurch, dass man im Blick auf das Heilige sagt, was in jeder individualethischen Debatte nach spätestens drei Minuten gesagt wird: "Was einem heilig ist, muss jeder für sich selbst entscheiden." Aber so einfach ist es natürlich nicht. Denn man kann denjenigen, die diesen Satz äußern, in der Regel schnell nachweisen, dass sie sich in einen Selbstwiderspruch verwickeln. Sie gehen nämlich meist sehr wohl davon aus, dass es etwas gibt, was allen heilig sein sollte. Und dieses "Etwas" ist im säkularen Abendland in der Regel etwas Ethisches.
Der Theologe Paul Tillich hat schon vor siebzig Jahren registriert, dass irgendwann im Verlauf der Geschichte des Judentums Heiligkeit zur moralischen Reinheit wurde. Und das ist auch im Christentum so geblieben. Wenn Christinnen und Christen das Alte Testament lesen und auslegen, kann man davon ausgehen, dass die Reinheitsgebote auf der Strecke bleiben. Schon Christus selbst wird in den Mund gelegt, dass unrein nicht das macht, was von außen in den Menschen hineingeht, sondern das, was aus ihren Mündern herauskommt. Also Worte. Worte, die viral gehen und Umgebungen und Gesellschaften wie Viren verseuchen können. Es gibt so etwas wie verbale Umweltverschmutzung. Es gibt zumal in einer nachkultischen Zeit Tabubrüche durch Worte, gegen die kultische Tabubrüche sozusagen ein Dreck sind oder vielmehr scheinen. Faktisch kennt das Christentum unserer Zeit aber nur noch Reinheitsgebote.
Kants kategorischer Imperativ als neues Heiligstes
Und das oberste Reinheitsgebot von allen ist Immanuel Kants kategorischer Imperativ, also die Aufforderung, so zu handeln, dass wir nur das wollen, was zugleich zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung werden kann, dass Menschen nie nur Mittel zum Zweck sind und dass nichts in der Welt gut ist außer eine gute Gesinnung. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass Kants kategorischer Imperativ zum neuen Gott des aufgeklärten Protestantismus und letztlich zum Allerheiligsten geworden ist. Drastisch gesprochen: Gott ist nicht tot. Er hat als ethisches Desinfektionsmittel und als moralischer Hochdruckreiniger überlebt – und zwar innerhalb und außerhalb der christlichen Kirchen. Friedrich Nietzsche, der hellsichtigste aller Christentumskritiker, brachte es auf den Punkt. Was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat, schrieb er einmal, sei die christliche Moralität selbst, die reine Gesinnung, die ethische Sauberkeit um jeden Preis.
Apropos Sauberkeit. Während die gute alte Klementine in der Waschmittelwerbung auch ästhetische Reinheit im Sinn hatte, als sie in den Jahrzehnten des Wirtschaftswunders und der hochgekrempelten Ärmel darauf beharrte, dass Ariel nicht nur sauber, sondern rein wäscht, geht es den neuen Heiligen der Reinheit nicht mehr um das Schöne, sondern nur noch um das moralisch Gute. Es geht nicht mehr um ästhetische Reinlichkeit, sondern um ethische Reinheit. Um die Reinheit des gerechten Sprechens zum Beispiel. Oder um die Reinheit der Atmosphäre von CO₂, egal um welchen optischen Preis einer Naturverhässlichung, die im Blick auf Windräder und Solarparks noch dazu alles andere als ethisch nachhaltig ist.
Ästhetik und Moral
Wer es dagegen riskiert, den Finger in die Wunde des sichtbaren Verfalls der Städte zu legen und einen Zusammenhang zwischen dem ästhetisch Hässlichen und dem moralisch Hässlichen wahrzunehmen, gilt schnell als moralisch unrein und blind, weil er der Unfähigkeit oder Unwilligkeit bezichtigt wird, in der Verwahrlosung nicht Verwahrlosung, sondern bunte Bereicherung oder den Schrei Übersehener nach Aufmerksamkeit zu sehen. Dazu passt, dass der Dekan von Canterbury jüngst Graffitikünstler einlud, den Innenraum der Mutterkirche des angelsächsischen Christentums zu – nun ja – gestalten. Das Ziel bestand darin, "marginalisierte Gemeinschaften" und Graffiti als "Sprache der Unerhörten" sichtbar zu machen.
Ich zitiere den Poeten Alex Vellis, den die Kirche mit der Organisation der Kunstaktion beauftragte: "Wir schließen uns einem Chor der Vergessenen, der Verlorenen und der Wunderbaren an – Menschen, die ihre Spuren hinterlassen wollten, die sagen wollten: ‚Ich war hier‘, und deren Einkerbungen ihre Stimme durch die Jahrhunderte tragen sollten." Der Journalist Matthias Heine hat dies unter dem Eindruck des Altarpinklers vom Petersdom unlängst sardonisch kommentiert. (ACHTUNG!!! Der folgende Satz enthält Szenen, die Ihr sittliches Empfinden verletzen könnten!!!) "Das klingt", so Matthias Heine, "rührend, aber es ist wert, daran zu erinnern, dass der ‚Chor der Vergessenen‘, die ihre Graffiti irgendwo hinterließen, in Europa einst anhob mit dem Mann, der in Pompeji an die Wand kritzelte: ‚Ich habe die Wirtin gevögelt‘ – bevor der Vulkanausbruch ihn und seine Gastgeberin unter glühend heißer Asche begrub."
Menschenrechte als Heiligtümer
Die Dialektik oder besser gesagt Doppelmoral der Freiheit der Kunst zeigt sich daran, dass die Besudelung und Entweihung von christlichen Heiligtümern des Abendlands gerade von moralisch sensiblen Menschen mitunter als moralische Handlung begriffen wird, während dieselben Menschen in anderen moralischen Zusammenhängen und im Blick auf andere für heilig gehaltene Güter instinktiv registrieren, dass es zur Definition des Heiligen gehört, es nicht zu entweihen und sich also auch nicht darüber lustig machen zu dürfen. Man kann daraus unschwer folgern, dass die Menschenrechte die eigentlichen Heiligtümer und dass physische, psychische oder verbale Menschenrechtsverletzungen die eigentlichen Sakrilegien einer postreligiösen Zeit sind.
Will heißen: Ein Heiliger oder eine Heilige ist der Inbegriff eines menschlichen, also eines humanen oder besser gesagt humanitären beziehungsweise humanistischen Menschen. Das Credo des Humanismus lässt sich leicht in einem Satz zusammenfassen. Er lautet: "Der Mensch ist der Freund des Menschen." Heilig kann nur jemand sein, der ein vollendet vorbildlicher Freund des Menschen und der Menschlichkeit ist. Wenn dieser Heilige dann noch biosphärensensibel ist, setzt dies seiner Heiligkeit die Krone auf.
Heiligkeit, Sex und Moral
Ein bisschen geht es aber selbst im erotisch abgeklärten aufgeklärten Abendland auch noch um Sex, wenn es um Heiligkeit geht. Seit dem heiligen Augustinus, also seit eintausendsechshundert Jahren, sind die Worte Sex, Sünde, Moral und Heiligkeit untrennbar liiert. Wenn eine Kirche sich des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht hat, hat sie offenbar ihren Anspruch verspielt, eine heilige Kirche zu sein. Wenn jemand über sich sagt: "Ich war kein Heiliger", dann geht es ebenfalls um Sex. Es handelt sich nicht um eine Aussage über Spiritualität, Frömmigkeit und Religiosität, also nicht um eine Beschreibung der fehlenden Transzendenztransparenz des eigenen Lebens. Oder vielleicht doch? – Womöglich ist im Wort "heilig" ja noch immer zumindest eine homöopathische Dosis Transzendenzverankerung, also ein Sinn für die Vertikale, aufbewahrt.
Was das Wort "Vertikale" anbelangt, so liest es sich auf den ersten Blick so, als würde es sich um einen Wirkstoff, also ein Medikament handeln. "Verticale®". Und vielleicht stimmt das ja sogar irgendwie. Wenn ich erklären müsste, was ich unter Heiligkeit verstehe, wenn ich darunter nicht allein und vielleicht nicht in erster Linie moralische und asketische Reinheit verstanden haben will, dann greife ich in letzter Zeit immer öfter zu einer geometrischen Veranschaulichung. Sie ist zwar simpel, vielleicht sogar zu simpel. Ich glaube trotzdem, dass sie den entscheidenden religiösen Punkt trifft. Heiligkeit entsteht meiner theologischen Überzeugung nach dort, wo die göttliche Vertikale die geschöpfliche Horizontale schneidet, wo also der Himmel die Erde berührt. In Genesis 28 und Exodus 3 kann man zwei wunderbare alttestamentliche Geschichten dazu nachlesen. Die Erscheinung des brennenden Dornbuschs und der Traum von der Himmelsleiter zeugen davon, wie die Vertikale die Horizontale für das Göttliche entflammt und wie die himmlische und die irdische Sphäre erhebend und zugleich erschütternd aufeinandertreffen.
Der Religionsphilosoph Rudolf Otto wusste, dass die Begegnung mit dem Heiligen nicht nur faszinierend, sondern auch unheimlich ist. Und weil diese Doppelnatur der Erfahrung des Heiligen nur im Kultus, nicht aber im Ethos zu bewältigen und zu verarbeiten ist, schreit die Erfahrung des Heiligen nach Heiligtümern. Schon das Alte Testament lässt sich eine Gewissheit nicht nehmen, die sich jedenfalls in der Geschichte des Katholizismus bis heute nicht verloren hat. Die Gewissheit nämlich, dass diese heiligen Schnittpunkte von Himmel und Erde nicht mehr zur Verwendung für die Zwecke der Horizontalen taugen, also Orte sind, die ausgespart sind und ausgespart werden müssen. Andersorte, an denen die Welt zur Anderswelt geworden ist. Andersorte, an denen Heiligtümer erbaut werden müssen. Heiligtümer, die die Beziehung zur Vertikalen pflegen. Heiligtümer, deren Türme in den Himmel zeigen, um an die geheimnisvolle Gegenwart der Vertikalen in einer transzendental obdachlosen, der Vertikalen beraubten, im Horizont der Horizontalen gefangenen Welt zu erinnern.
Christus als Schnittpunkt von Vertikale und Horizontale
Natürlich ist im Neuen Testament Jesus Christus dieser Schnittpunkt von Vertikale und Horizontale, von Transzendenz und Immanenz, von Mensch und Gott, von Himmel und Erde. Er und sonst niemand ist heilig, weil er der vollkommen transparente Andersort, also vollkommen transparent für die Transzendenz ist. Er allein offenbart den himmlischen Vater und zugleich die Reinheit der Menschenseele.
Und weil er das tut, ist er wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich. Jeder theologische Versuch, Christus um die Vertikale zu beschneiden und etwa auf ein moralisches Vorbild im Sinne von Kants kategorischem Imperativ oder im Sinne irgendeines postchristlichen Menschenrechtshumanismus zu reduzieren, ist – ja, Sie lesen richtig! – Irrlehre. Er ist zutiefst häretisch und zutiefst unchristlich, weil er das Geheimnis des Glaubens, die Heiligkeit Christi, die Christlichkeit des Christlichen und die Heiligkeit des Heiligen zerstört.
Hinter jedem Verständnis von Heiligkeit, das seinen Namen verdient, steht also die Ahnung einer unbegreiflichen und unglaublichen Gegenwart des Göttlichen. So sehr die jüdisch-christliche Tradition darum weiß, dass die Erde keine Göttin und der Mensch kein Gott, sondern ein physisch und moralisch endliches Wesen ist, so sehr zeugt sie unablässig von dieser Berührung des Irdischen durch das Göttliche. Die große jüdisch-christliche Erzählung der Heilsgeschichte deutet die Geschichte der Welt nicht nur als Spur des Menschlich-Allzumenschlichen, sondern auch als Spur des heiligen Gottes.
Heilige Menschen
Das heißt nicht, dass es keine Heiligen geben könnte. Im Gegenteil. Denn ein heiliger Mensch könnte ja eben ein Mensch sein, durch dessen Leben in der Nachfolge Christi das reine Vertrauen auf die Vertikale, die rettende Gegenwart dieser Vertikalen und das tröstende Licht der Erlösung hindurchschimmern. Nicht von ungefähr ist das Zeichen dieser Erlösung und dieses Erlösers das Kreuz. Das Kreuz ist das heilige Zeichen der Christen. Es ist das Symbol der Verbindung der Vertikalen mit der Horizontalen. Bei Licht oder vielmehr im Dunkel des Karfreitags besehen geschieht an diesem Kreuzungspunkt von Vertikaler und Horizontaler allerdings Ungeheuerliches. Das Kreuz durchkreuzt alle Hoffnungen auf ein harmonisches Zusammentreffen von Gott und Mensch.
Auf Golgatha ereignet sich eine Katastrophe. Die Zerstörung des Allerheiligsten. Der christliche Glaube will es allerdings, dass gerade der Unort dieser Katastrophe ein theologisch umso heiligerer Ort ist. Ein Ort, an dem nicht nur alle Hoffnung, sondern auch der Vorhang im Tempel zerrissen wird, der Normalsterbliche vom Allerheiligsten trennt. Ein Ort, dessen Gewalt nicht nur Gewalt bedeutet, sondern über die Gewalt hinaus auf das Ende aller Gewalt weist.
Im letzten Roman des amerikanischen Schriftstellers Cormac McCarthy steht ein großartiger Satz. "Sites", schreibt McCarthy zwei Jahrzehnte nach Nine Eleven und zwei Jahrtausende nach Golgatha, "that have been host to extraordinary suffering will eventually be either burned to the ground or turned into temples.” Stätten, an denen außergewöhnliches Leid geschieht, werden entweder niedergebrannt oder zu Tempeln. Christus selbst spricht von seinem zerstörten Leib als einem Tempel, der nach drei Tagen neu errichtet wird.
Kreuze und Auferstehung
Zwar schmücken sich Christinnen und Christen nicht mit Auferstehungen. Sie tragen, wenn sie christlichen Schmuck tragen, Kreuze um den Hals. Das Kreuz ist das Symbol der Christenheit. Aber weil jedes dieser Kreuze immer schon beglänzt ist vom Licht des Ostermorgens, tragen alle Christenmenschen, die Kreuze um den Hals tragen, dann eben doch Auferstehungen um den Hals. Letztlich ist ja auch die Auferstehung ein Kreuz. Nicht nur, weil sie für jedes weltliche und für jedes christliche Vorstellungsvermögen ein Kreuz, also ein Ding der Unmöglichkeit ist. Sondern auch deshalb, weil sie als unfassbarer Vorschein der Erlösung eine heilige, vielleicht sogar die allerheiligste Schnittstelle zwischen der Vertikalen und der Horizontalen ist. Dort, im leeren Grab Christi, geschieht der rettende, allesverändernde Einbruch der Anderswelt in die Welt.
Wenn die christliche Kirche wirklich eine heilige Kirche sein will, dann kann sie eigentlich nicht anders, als sich – und zwar nicht nur an Allerheiligen – zum Grab aufzumachen. Sie kann nicht anders, als in einer unheiligen und unreinen Welt die große heilige Leerstelle des fehlenden Gottes offenzuhalten und reinen Herzens auf den heiligen Tag seiner Wiederkehr zu hoffen. Alles andere wäre trostlos profan.