Seit den #MeToo-Skandalen, bei denen Frauen Missbrauchsstrukturen in der Filmbranche aufdeckten, ist die Öffentlichkeit empfindlich geworden, wenn es um das Thema "Grenzüberschreitungen" geht. Das Spektrum des schwammigen Begriffs reicht von schlüpfrigen Bemerkungen bis zu sexuellen Handlungen gegen den Willen der Betroffenen.

Insofern war es mehr als eine bloße Meldung, als Medien Mitte September einen Vorfall in der Diakonie München bekannt machten: Eine Mitarbeiterin hatte sich mit Vorwürfen der "Grenzüberschreitung" durch den Vorstandssprecher an die Meldestellen gewandt. Welcher Art diese Grenzüberschreitung war, wird die Öffentlichkeit nicht erfahren, denn die Betroffene will das nicht. Bekannt ist nur, dass keine Strafanzeige gestellt wurde und es wohl beim Einzelfall blieb.

"Im Falle der Diakonie München war es eine Kette von Fehlentscheidungen, die die Sache erst groß werden ließen."

Kette von Fehlentscheidungen ließ Sache groß werden

Nun sind Grenzüberschreitungen am Arbeitsplatz immer schlecht, erst recht, wenn sie mit dem Machtgefälle zwischen Führungskräften und Angestellten einhergehen. Zum handfesten Problem werden sie, wenn Struktur und System im Unternehmen nicht in der Lage sind, sie ordnungsgemäß aufzuarbeiten. Im Falle der Diakonie München war es eine Kette von Fehlentscheidungen, die die Sache erst groß werden ließen.

Da war ein (jetzt zurückgetretener) Aufsichtsratsvorsitzender, der offenbar zur Sackgasse wurde für die in einem solchen Fall nötigen Prozesse. Und ein Vorstandssprecher, der sich in die Aufarbeitung des Falls einmischte, obwohl er selbst von den Vorwürfen betroffen war. Das, nicht der Vorfall selbst, war am Ende der Hauptgrund für seine Abberufung.

#MeToo hat etwas verändert

Eins hat sich in den vergangenen Jahren Gott sei Dank geändert: Die Aussagen von Frauen (und Männern), die von Grenzüberschreitungen im Job berichten, werden nicht mehr reflexhaft lächerlich gemacht oder totgeschwiegen. Der jahrzehntelang mitschwingende Unterton des "So-schlimm-wird’s-nicht-gewesen-sein" ist zumindest leiser geworden. Die öffentliche Resonanz hat die betroffenen Systeme – von Filmindustrie über Kirche bis Sportbranche – zum Innehalten gezwungen.

"Nun braucht es Strukturen, die diese Entwicklung sichern, damit der Arbeitsplatz oder die Freizeitstätte nicht mehr zum Tatort wird."

Endlich gibt es Anlaufstellen für Betroffene, deren Aufgabe es ist, Glauben zu schenken und Prüfungen anzustrengen. Nun braucht es Strukturen, die diese Entwicklung sichern, damit der Arbeitsplatz oder die Freizeitstätte nicht mehr zum Tatort wird.

Arbeit an der DNA

Die bayerische Landeskirche und ihre Diakonie haben im Jahr 2020 mit dem Präventionsgesetz gegen sexualisierte Gewalt einen richtigen Schritt getan. Jetzt müssen dessen Inhalte hinein in die DNA der verantwortlichen Gremien vor Ort – vom Kirchenvorstand bis zum Aufsichtsrat. Die Diakonie München will bis Ende des Jahres ein Schutzkonzept vorlegen. Das ist gut, reicht aber nicht: Sie muss ihre Strukturen so verändern, dass Aufklärung nicht mehr in Sackgassen enden kann.