"Der gemeinsame Nachname bringt es mit sich, dass ich schon immer auf Karl Marx angesprochen worden bin. Das nahm noch zu, als ich Professor für Christliche Sozial­ethik in Paderborn wurde, und vor allem, als ich 1996 zum Bischof von Trier ernannt wurde, also Marx’ Geburtsstadt. Ich selbst habe mich auch nicht vor dieser Namensgleichheit gescheut und bin 2008 dem Vorschlag des Verlags gefolgt, ein Buch über die Katholische Soziallehre unter dem Titel "Das Kapital" zu schreiben.

Dennoch war und ist es nicht ohne Fallstricke, sich als Mann der Kirche zu Karl Marx zu äußern. Denn Marx war ein scharfer Gegner der Religion – für ihn "allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund" der bürgerlich-kapitalistischen Welt und "das Opium des Volks". Vor allem deshalb war die sozialistische bzw. kommunistische Bewegung von Anfang an streng atheistisch und antiklerikal orientiert. Die christliche Sozialbewegung wiederum war in Reaktion darauf von Anfang an genauso strikt antisozialistisch und antikommunistisch.

Oswald von Nell-Breuning: "Wir alle stehen auf den Schultern von Karl Marx."

Das alles sind nicht nur theoretische Gegensätze geblieben, sondern daraus sind vor allem im 20. Jahrhundert handfeste politische Konflikte geworden. Und diese sind leider keineswegs immer so harmlos geblieben wie jene zwischen Don Camillo und Peppone, den von Guareschi erdachten liebenswürdigen Figuren des katholischen Pfarrers und des kommunistischen Bürgermeisters in dem fiktiven italienischen Dorf Boscaccio der Nachkriegszeit.

Die Last dieser historischen Hypothek im Verhältnis von Marxismus und Christentum will ich nicht kleinreden. Jedoch dürfen wir unseren Blick nicht darauf verengen. Denn zu Recht hat Oswald von Nell-Breuning, der Nestor der katholischen Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert, einmal geschrieben: "Wir alle stehen auf den Schultern von Karl Marx."

Kardinal Reinhard Marx spricht bei einer Kundgebung des Zentralrats der Juden in Deutschland gegen Antisemitismus (Berlin, 14. September 2014).
Kardinal Reinhard Marx spricht bei einer Kundgebung des Zentralrats der Juden in Deutschland gegen Antisemitismus (Berlin, 14. September 2014).

Marx wollte die Französische Revolution vollenden

Marx war kein bloßer Ideologe. Sein "Kapital" ist ein wissenschaftliches Werk auf der Höhe der seinerzeitigen sozialphilosophischen und insbesondere ökonomischen Diskurse. Seine Überzeugung, dass die epochale soziale Herausforderung seiner Zeit, die Arbeiterfrage, nicht innerhalb des kapitalistischen Systems zu lösen sein würde, war keineswegs eine abseitige Meinung, sondern wurde hinsichtlich der ökonomischen Analyse von den meisten seiner Zeitgenossen geteilt. Er konnte sich hierbei etwa auf David Ricardo berufen, den damals maßgeblichen Theoretiker der Volkswirtschaftslehre.

Und wenn Marx die bloß formellen Freiheiten in der bürgerlichen Gesellschaft kritisierte und die Durchsetzung der reellen, sozialen Freiheiten verlangte, dann propagierte er keineswegs einen anarchistischen Umsturz, sondern äußerte den legitimen Anspruch auf das, was wir heute mit umfassender sozialer Teilhabe für alle meinen und auch vonseiten der Kirchen einfordern. Im Gegensatz zu dem, was andere später aus seinen Ideen gemacht haben, wollte Marx selbst keineswegs hinter die Errungenschaften der Französischen Revolution zurück, sondern diese vielmehr vollenden.

Marx bewirkte den Wandel zur Sozialen Marktwirtschaft

Was Karl Marx allerdings unterschätzt hat, ist die enorme Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus. Aber vielleicht ist auch die Schärfe seiner kompromisslosen Analyse und Kritik der Katalysator gewesen, der diese Wandlungsfähigkeit erst in Gang gesetzt hat. Unter dem Damoklesschwert der drohenden kommunistischen Revolution kam es in den Industriestaaten jedenfalls zu einer umfassenden sozialstaatlichen und arbeitsrechtlichen Absicherung der Existenz der Lohnarbeiter und ihrer Familien. "Unter diesen Verhältnissen hat sich der designierte Träger einer künftigen Revolution, das Proletariat, als Proletariat aufgelöst", wie Jürgen Habermas einmal lapidar festgestellt hat.

Das war der Wandel des Kapitalismus zu einer "Sozialen Marktwirtschaft". Die Soziale Marktwirtschaft hat aber keine Ewigkeitsgarantie, sondern ist immer noch und immer wieder von Neuem herausgefordert. Auch in der Welt von heute gibt es das, was Marx mit dem Begriff der "Entfremdung" bezeichnet hat: Die Menschen errichten Strukturen, an denen sie zugrunde zu gehen drohen – etwa angesichts des Klimawandels. Gegen diese Entfremdung zu kämpfen bleibt ein Auftrag, an den uns das Erscheinen des ersten Bands von Marx’ "Kapital" vor 150 Jahren erinnern sollte."