Zerrissenheit – ist wohl das Leitmotiv Ocean Vuongs: zerrissenen zwischen seinem Herkunftsland Vietnam und dem Leben als Einwanderer in Connecticut, zerrissen zwischen homosexuellen Neigungen und der ihn umgebenden Gesellschaft mit traditionellen Mann-Frau-Rollen, zerrissen zwischen seiner Mutter, die Analphabetin ist und dem eigenen Schreiben, das ihn zum erfolgreichen Schriftsteller werden lässt.  

Das Leben als vietnamesischer Immigrant in den USA

Von diesen "Zerrissenheiten" erzählt der junge Autor in einem Brief an seine Mutter. So schön, so schrecklich, so eindringlich geschrieben, wie selten zuvor ein Brief in der großen Literatur. Und äußerst ambivalent! Little Dog, der Ich-Erzähler, reiht Bilder und Szenen aus seinem harten Leben als vietnamesischer Immigrant aneinander, holt Momente von Gewalt und Zärtlichkeit ans Tageslicht und schildert sein Erwachsenwerden.

Little Dogs Mutter ist Tochter eines amerikanischen Soldaten und eines vietnamesischen Bauernmädchens. Sie flieht mit ihrem Sohn, ihrer Schwester und ihrer Mutter von Saigon nach Hartford (Connecticut) und arbeitet in einem Nagelstudio. Der "American Dream" erfüllt sich bei ihr nicht, auch weil sie weder lesen, noch schreiben kann und kaum Englisch spricht. Ihre Wut und Ängste entladen sich bei ihrem Sohn, in Schlägen und groben Worten, immer wieder. 

Handgreifliche Mutter und schizophrene Oma

"Eines Tages kam die Mutter des Jungen nach Überstunden (…) nach Hause. Die Wohnung war von Hunderten Spielzeugsoldaten übersät (…).Die Männer waren gerade dabei mitten bei der Befreiungsaktion einer dreizehn Zentimeter großen Micky Maus, die in einem Gefängnis aus schwarzen Videokassetten steckte. (…) Als sie die Tür öffnete, schreckte der Junge hoch, aber es war zu spät. Bevor er das Gesicht seiner Mutter ausmachen konnte, knallte ihre Rückhand seitlich gegen seinen Kopf."

In solchen Momenten klammert sich Little Dog, ein schmächtiger Außenseiter, an seine Großmutter, die mit Mutter und Sohne eine kleine Wohnung teilt. Die Großmutter selbst soll einst stark gewesen, von einer Zwangsehe und ihrer Familie geflohen sein. Unter neuem Namen arbeitete sie in der vietnamesischen Hauptstadt als Prostituierte, wo sie mitten im Krieg einen schüchternen amerikanischen Soldaten kennenlernte. So entstand Little Dogs Mutter, Rose. Doch trotz der kurzen Verliebtheit, war der Soldat bei der Geburt schon wieder entschwunden – zurück zu seiner amerikanischen Familie. Als Großvater Paul taucht er später wieder auf, voller Scham für den Betrug an seiner ersten, seiner vietnamesischen Frau, die mittlerweile an Schizophrenie erkrankt ist. 

Doch trotz der Anfälle der Oma und den Ausrastern der Mutter findet Little Dog seinen Weg aus dem Leid, das der Krieg in zwei Generationen eingebrannt hat, heraus. Nach einer schwierigen Highschool-Zeit schafft er es nach New York und studiert Literatur. Er verpflichtet sich selbst

"über den schwer verständlichen Texten toter Menschen zu brüten, von denen die meisten sich nie hätten träumen lassen, dass ein Gesicht wie meines einmal über ihren Sätzen schweben würde – und am allerwenigsten, dass diese Sätze mich einmal retten würden."

Schließlich schreibt Ocean Vuong Gedichte, preisgekrönte Poesie und am Ende diesen Roman, seinen Debutroman, und erzielt seinen Durchbruch. 

Beziehung mit einem Farmersjungen endet in Katastrophe

Trevor arbeitet auf der Tabakfarm seines Vaters, wo die beiden sich kennenlernen, wo sie ernten, den Tabak trocknen, Pausen machen mit selbstgedrehten Zigaretten und Schokoriegeln, wo sie über Musik sprechen und im Lagerschuppen ihr erstes Mal erleben. Wo beide trotz ihrer Umgebung, die weiß ist, rassistisch und homophob, nicht an ihrem Verlangen füreinander scheitern, nicht an Scham und Angst. Dabei bleiben sie diskret, auch gegenüber Trevors alkoholkrankem Vater. Sie machen Touren in die Diners der Umgebung, philosophieren über Cola und Pepsi und genießen den Sternenhimmel. Bis Little Dog den Abschluss schafft und zum Studium nach New York geht. Trevor muss er zurücklassen. 

"Ich wusste nicht, dass ich ihn da zum letzten Mal sah, seine Halsnarbe blau beleuchtet vom Neonvordach des Diners. Dieses kleine Komma wiederzusehen, meinen Mund draufzulegen, meinen Schatten die Narbe weiten zu lassen, bis endlich überhaupt keine Narbe mehr zu sehen wäre, nur eine gewaltige und gerechte, von meinen Lippen versiegelte Dunkelheit." 

Trevor geht auf dem Land zugrunde. Wegen eines Sportunfalls wird ihm ein Opiat verschrieben, er wird süchtig, später werden ihm jedoch weitere Rezepte verwehrt. Der Farmersjunge sucht sich unreine Alternativen auf dem Schwarzmarkt und stirbt schließlich daran. Opfer der weltweit bekannt gewordenen, amerikanischen Opioid-Krise, die Profit über Menschen gestellt hatte. Doch Little Dog findet seinen Weg. 

Ganz eigene Form der Literatur 

In den Berichten von seiner kranken Familie und in den Schilderungen seiner ersten Liebe – adressiert an seine Mutter, die diese nie lesen können wird, kommt trotz Scheitern, Brutalität und Schmerz viel Schönheit vor. Auch deshalb, weil Ocean Vuong eine neue Form der Literatur schafft, die die Formen von Prosa, Essay und Poesie verwischt. Und weil er stark sein will:

"Niemand soll glauben, wir seien die Frucht der Gewalt – sondern dass Gewalt, die durch die Frucht hindurchgegangen ist, sie nicht verderben konnte."

Dieser Leitgedanke und der einmalige Stil machen den Roman nicht nur erträglich, sondern wunderschön. Ocean Vuong gelingt es, in diese Wüste, in diese Ödnis der amerikanischen Wastelands, mit seiner Sprache Pflanzen zu säen, die die schönsten Blüten treiben. Indem er alles verdichtet, schafft er überraschende Bilder, elektrisiert, verzaubert, schafft aus einer einfachen Geschichte, große Literatur. Dieses Buch ist eine Befreiung, des Autors und aller, die mit ihm mitfühlen. 

Dabei reiht sich Vuong in eine Reihe von Schriftsteller*innen ein, die nicht der Mehrheitsgesellschaft entstammen. Die jedoch nicht anklagen, sondern sich gegen ihre Herkunft, ihre Traumata stemmen und einfach von ihrem Leben berichten und damit aufklären. Dabei sprengen sie literarische Grenzen, wechseln zwischen Autobiographie und Fiktion, so wie die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux oder der französische Star-Autor Edouard Louis. Diese Autor*innen geben uns Einblicke in die Welt um die Jahrtausendwende mit teils demütigenden Lebensumständen und in ganz unterschiedliche Kulturen. Offen, manchmal nachdenklich, manchmal lustig, aber immer inspirierend. 

Ocean Vuong (2019): Auf Erden sind wir kurz grandios. Carl-Hanser-Verlag, München 2019. 237 S., 11,00 Euro.

Jetzt das Buch beim sozialen Buchhandel Buch7 bestellen.