Immer wieder wollte die Erzählerin dieses Buch schreiben und kam doch lange nicht dazu. Studium, Ehe und Kinder hielten sie davon ab. Am Ende hat sie es geschafft und bekundet im letzten Satz ihre Motivation:

"Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird."

"Die Jahre" ist Annie Ernaux Autobiografie, darin berichtet sie von ihrem Leben im Strudel der Ereignisse der vergangenen 70 Jahre.

Stationen ihres eigenen Werdegangs

Anhand von Fotografien, Erinnerungen und Aufzeichnungen, von Wörtern, Melodien und Gegenständen vergegenwärtigt Ernaux die Jahre zwischen 1950 und 2010. Sie skizziert Stationen ihres eigenen Werdegangs. Passagen persönlicher Gedanken und Erfahrungen wechseln regelmäßig mit Aufzählungen und Beschreibungen des typischen französischen Lebens ab. Dabei ist "Die Jahre" fast eine Chronik, ein faszinierendes Panorama der französischen Gesellschaft, ein Stück Kulturgeschichte.

Als Leser*in dürfen wir uns von zwei Dingen nicht abschrecken lassen: erstens den ersten Seiten mit Werbe-Slogans, Lieder-Zitaten und Ereignissen der Nachkriegszeit, in denen – egal ob wir sie schon einmal gehört haben oder nicht – noch nicht viel Spannendes, Persönliches steckt. Zweitens lassen wir uns nicht irritieren von den vielen Hinweisen, die eher nach einem Buch für eingefleischte Frankophile klingen. Ich selber – Deutsch-Franzose, Jahrgang 1979 – konnte nur mit einem Zehntel der Namen, Ereignisse und Personen etwas anfangen. Aber das ist auch egal!

Vom Arbeiterkind zur Schriftstellerin

Denn Annie Ernaux thematisiert auch ihren eigenen Lebensweg vom Arbeiterkind zur Schriftstellerin. Sie schlägt einen großen Bogen zwischen ihrer Geburt 1940, der Kindheit in der Nachkriegszeit, der Schulzeit mit zahlreichen Ausflügen, ihrer Karriere an der Universität, ihrer leider prekären Ehe, von Mutterschaft, Krankheit und Verlust bis hin zur Emanzipation, ihrer Scheidung und dem eigenen Altern.

Dabei spielen der Kampf der Frauen für die Legalisierung der Abtreibung ebenso eine Rolle wie der Milieuwechsel aus der Unter- in die Mittelschicht. En passant liefert sie darüber hinaus einen Abriss der Politik und des Durchbruchs des Konsums in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankreich. Von De Gaulle über Mitterand zu 9/11.

Ernaux berichtet von Zeiten, in denen Mädchen noch gesagt wurde, vom Masturbieren würden sie blind werden. In denen es keine Anti-Baby-Pille gab, Engelmacherinnen in Hinterzimmern am Werk waren, und Eltern, Schwiegereltern und Nachbarn sagen:

"Für uns gibt es nur eine Hochzeit."

Und damit Scheidungen kategorisch ausschlossen. Die Erzählerin arbeitet sich vor zu den 68ern, die sie aus der Distanz ihrer Ehe verfolgt – über die Medien und die Literatur. Jahre, in denen es um Polygamie geht, in denen "Wir haben abgetrieben" auf Titelseiten großer Zeitschriften in Frankreich und Deutschland prangen; Jahre, in denen die kurze Zeit der Selbstbestimmung über den eigenen Körper von der Furcht vor HIV/ AIDS abgelöst wird.

Das Leben, Glück und Vergänglichkeit

Dabei leitet uns die Erzählerin entlang privater Fotos, später Videos, durch ihr Leben. Die Beschreibungen und die damit verbundenen persönlichen Gedanken gehören zu den eindringlichsten Passagen: das kleine Mädchen am Strand, die 16-Jährige in Yvetot, der Studienabschluss und das Muttersein lassen uns über das Leben, über Glück und Vergänglichkeit nachdenken.

Dabei stellt die Erzählerin den Verlauf ihres Lebens immer wieder kritisch in Frage, zweifelt und bedauert rückblickend, nicht anders gelebt zu haben. "Wenn sie Zeit mit ihrer Familie verbringt, fühlt sie nur und denkt nicht. Richtige Gedanken kommen ihr nur, wenn sie allein ist, […] Gedanken über sich selbst, über das, was sie hat und was sie ist, über ihr Leben.

Diese Gedanken sind eine Vertiefung all der flüchtigen Gefühle, über die sie mit niemanden reden kann, all der Dinge, über die sie schreiben würde, wenn sie die Zeit dazu hätte – aber sie hat ja nicht mal mehr die Zeit zum Lesen. In ihrem Tagebuch, das sie nur noch selten aufschlägt, ganz so, als würde es eine Bedrohung für den Zusammenhalt der Familie darstellen, als hätte sie kein Recht auf ein Innenleben, notiert sie: ‚Mir fällt gar nichts mehr ein. Ich versuche nicht mehr, mir mein Leben zu erklären‘ und: ‚Ich bin zu einer arrivierten Kleinbürgerin geworden.‘"

Es gibt kein Ich

Doch das ist nur ein Zwischenschritt. Durch die Erzählperspektive in der dritten Person schafft die Erzählerin eine gewisse Distanz zu sich selbst. Es gibt kein Ich! Weil, so sagt Ernaux selber, sie sehr schüchtern war, sich ohne "Persönlichkeit" fühlte. Und weil sie in der Geschichte aufgeht. Weil sie - wie so viele andere Menschen auch -, wohl unsichtbar bleiben wird. Weil wir alle zusammen zwar Geschichte machen, aber die meisten ohne selbst herauszustechen, ohne Gesicht, ohne Namen in den Geschichtsbüchern.

Im Zuge dessen kommt "Die Jahre" anders daher, als wir es von Autobiographien gewöhnt sind. Diese neuartige Erzählform, die "unpersönliche Autobiographie" gibt jüngeren Generationen einen Eindruck von dem Fortschritt und den vielen kleinen Rückschritten und ihrer Bedeutung für das eigene Leben. Dabei schreibt Ernaux sentimental, traurig, jedoch nicht depressiv. Sie kritisiert sehr subtil, wertet nur selten, was um sie herum passiert. Ernaux zeigt, wie sich das kleine Leben und die große Welt gegenseitig beeinflussen. Sie verzahnt ihre Erfahrungen mit den Prägungen ihrer Generation, ein wenig soziologisch.

Ihre Entscheidung gegen ein "Ich" und ihr trockener, minimalistischer und kalt erscheinender Still wurden vielfach kritisiert. Die Literaturkritikerin Marie-France Savean spekulierte noch gnädig, er verberge vielleicht die Tränen", andere sahen den schmalen Grat zu Banalität und Schlichtheit überschritten.

Wichtiger Teil der Literaturgeschichte

Annie Ernaux wurde am Samstag mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Ihre "Jahre" legen Zeugnis großer Veränderungen ab. Sie sind ein melancholisches Meisterwerk der Gedächtnisliteratur. Ein Werk, das Autoren wie Didier Eribon und Edouard Louis inspiriert und motiviert hat und schon jetzt ein wichtiger Teil der Literaturgeschichte ist.

Ernaux Beobachtungen zeigen eine nie selbstgewisse, immer fragende Frau im Strudel der Zeit. Ihr Werk ist eine ermutigende Selbstbesinnung in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt, in der man, sie, wir es alle irgendwie schaffen – und dann vergehen.

Annie Ernaux "Die Jahre"

Annie Ernaux (2017): "Die Jahre," Suhrkamp Verlag, Berlin, 256 Seiten, 18 Euro.

Das Buch kann hier über den sozialen Buchhandel Buch7 bestellt werden.