Die 60. Biennale in Venedig feiert ihr Jubiläum mit einem eindeutigen Statement für die Vielfalt. Mehr als 300 Künstlerinnen und Künstler werden auf der wichtigsten Kunstausstellung der westlichen Welt vorgestellt. Sie läuft noch bis zum 24. November 2024.
Der künstlerische Leiter Adriano Pedrosa aus Brasilien setzt mit seinem kuratorischen Programm bewusst einen Kontrapunkt zur Dominanz des Westens. Sein Blick wendet sich den Problemen der Welt auf eine ganz andere Art zu. Er geht zurück zur analogen Kunst und präsentiert vor allem Gemälde, Skulpturen und Textilkunst. Die zentrale Ausstellung im Arsenale und im Hauptpavillon stellt Pedrosa unter das Label "Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere".
Der Titel ist einer Werkserie des Konzeptkunstkollektivs Claire Fontaine entliehen und geht zugleich zurück auf den Namen eines Turiner antirassistischen Kollektivs aus den frühen 2000er Jahren. Die Kunstbiennale widme sich "Künstler:innen, die selbst Ausländer:innen, Immigrant:innen, Ausgewanderte, in der Diaspora, Emigrierte, Exilierte und Geflüchtete" sind, insbesondere aber "jene, die zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden gewandert" seien, wie Pedrosa im Vorfeld erklärt hatte.
Ganz anders in den Pavillons der Länder in den Giardini: Dort spiegeln sich die Krisen der globalisierten Welt wider. Vor dem Eingang des israelischen Pavillons hängt ein Schild mit der Mitteilung, dass die Ausstellung erst öffnet, wenn die "Vereinbarung über einen Waffenstillstand und eine Freilassung der Geiseln" erreicht wurde. Im polnischen und ukrainischen Pavillon wird eindrücklich an den Krieg erinnert. Die Ukraine zeigt Videos von europäischen Schauspielern, die stereotype ukrainische Flüchtlinge spielen, nebenan läuft ein Video mit Handyaufnahmen von Menschen, die vor Bomben und Schüssen fliehen – ein erschütternder Blick auf die Realität des Krieges.
Deutscher Pavillon mit Ersan Mondtag
Der Eingang zum deutschen Pavillon ist verschüttet, ein riesiger Erdhaufen versperrt das monumentale Portal. Über den Seiteneingang gelangen die Besucher ins Innere des Gebäudes. Dort hat der Künstler Ersan Mondtag ein mehrstöckiges Haus errichtet, in dem er an seinen Großvater Hasan Aygün erinnert. Dieser schuftete als "Gastarbeiter" in einem deutschen Eternitwerk und atmete täglich giftiges Asbest ein. Kurz nach seiner Pensionierung verstarb er, ohne jemals den Wunsch, wieder in der Heimat zu leben, realisieren zu können.
Als Kontrapunkt dazu läuft in dem großen Saal des Pavillons ein Video der israelischen Künstlerin Yael Bartana. Sie zeigt einen liturgischen Tanz in einer Waldeslichtung – was unwillkürlich Erinnerungen der NS-Zeit hervorruft, als 1939 die monumentalen Skulpturen von Arno Breker im Pavillon gezeigt wurden. In den Nebenräumen lässt Bartana skurrile Raumschiffe durch die Luft gleiten und erzählt von Menschen, die in der fernen Zukunft das Weltall bevölkern, eine Utopie, die sich niemand so recht wünschen mag.
Kirche, Religion und Spiritualität
Etliche Künstlerinnen und Künstler der Biennale 2024 rekurrieren auf die Themenfelder rund um Kirche, Religion und Spiritualität. Grund dafür ist ebenfalls das Konzept des brasilianischen Kurators, sich den Rändern der kunsthistorischen Kanons zu widmen. Hier bewegen sich nun mal viele Kreative, die sich auf ihre historischen Wurzeln, alte Bräuche und Traditionen beziehen.
Celestin Faustin: Spiritualität und Fantasie
Célestin Faustin stammt aus Haiti und hat farbenfrohe Ölgemälde geschaffen, die durchsetzt sind von Spiritualität, Fantasie und Erotik. Inspiriert vom Vodoo-Glauben, dessen Wurzeln im Katholizismus, dem Islam und der Folklore zu finden sind, versucht er, in seinen Bildern das Mythische und Spirituelle festzuhalten. In dem Gemälde "Pourtant ma Maison est Vide" zeigt er eine surrealen Landschaft mit zwei blauen, kahlköpfigen Aktfiguren, die sich auf ein Tieropfer vorbereiten. Eine geisterhafte Frau steht an der Tür einer Hütte, während ein Mann mit einer Machete in die schattigen Berge eilt.
Rubem Valentim: Gottheiten im Teppich
Der Brasilianer Rubem Valentim, der zu den vielen Künstlern gehört, die mit Textilien arbeiten, lebte kurzzeitig in Italien. Seine großformatigen Webarbeiten zeigen Symbole, die sich auf die Orixás-Gottheiten beziehen und an Totems erinnern. Konkret nimmt er Bezug auf Xangô, den Gott der Gerechtigkeit, der etwa mit einer Axt dargestellt wird und daran erinnert, wie die Menschen nach Gleichgewicht und Gerechtigkeit streben sollten.
Berlinde de Bruyckere: Erzengel und Hoffnungsträger
Wie auch in den Vorjahren werden auf der Biennale 2024 neben den Palästen auch zahlreiche Kirchen und ehemalige Klöster in der Lagunenstadt bespielt. Die belgische Künstlerin Berlinde de Bruyckere etwa bespielt mit ihrer Serie über "City of Refuge III" das Kloster von San Giorgio Maggiore. Sie hat monumentale Erzengel-Skulpturen geschaffen, menschliche Figuren, deren Füße knapp über dem Boden schweben, während Körper und Köpfe von schweren Fellmänteln verdeckt werden. In der Sakristei stehen Werkbänke, die mit seltsamen Wachsbaum-Elementen überwölbt wurden. Mit ihrer Installation verweist die Künstlerin bewusst auf biblische Figuren. Der Baum steht für sie als Hoffnungsträger für eine fragile Welt.
Yu Hong: Lebenswege des Netzes
Beeindruckend ist die Installation "Another One Bites the Dust" des asiatischen Künstlers Yu Hong. Er sucht im Netz nach Bildern von Menschen, die seelische Qualen oder körperliche Gefahr empfinden. Diese Emotionen bannt er auf große Tafeln mit goldenem Hintergrund, womit er unweigerlich an mittelalterliche Kirchenbilder erinnert. In der Chiesetta della Misericordia in Cannaregio stellt er einen Lebenszyklus vor, von der Geburt bis zum Tod, eine moderne Interpretation unserer Sterblichkeit.
Ernest Pignon-Ernest: Pietà als Streetart
Der französische Künstler Ernest Pignon-Ernest geht mit seinen großformatigen Gemälden in eine Selbstreflexion. Der Künstler hat für die Ausstellung mit dem Titel "Je est un autre" ein Selbstporträt gemalt, bei dem er sich selbst als Leichnahm trägt. Dieses Pietà-Motiv hat der Künstler in den letzten Jahren etliche Male auf Wände in Frankreich gesprüht und sich damit einen Namen als Streetart-Künstler gemacht. Seine Bilder sollen die Welt "mit poetischen Erzählungen bevölkern", so der Künstler.
Holy See im Gefängnis
Absoluter sehenswert und sicherlich der Geheimtipp der Biennale ist die Installation "Holy See". Der Pavillon des Vatikan wählte das Frauengefängnis von Venedig auf der Giudecca und thematisiert dort die Frage, wie Menschlichkeit und Fürsorge in unserer Gesellschaft gelebt werden. Der Titel "Con i miei occhi" (Mit meinen Augen) erinnert an den biblischen Text aus Hiob: Das Sehen ist gleichbedeutend mit der Berührung, mit dem Blick. Die weiblichen Gefangenen begleiten die Besucherinnen durch den historischen Ort und sorgen für eine Dynamik, der sich die Gäste kaum entziehen können.
Memo: Waberndes Video als Altarbild
Auch KI-Kunst ist auf der Biennale 2024 in Venedig zu sehen: In der Chiesa di Santa Maria della Visitazione präsentiert die Vanhaerents Art Collection eine Kunstinstallation. Vor dem Altarraum prangt eine riesigen Leinwand, die KI-generierte Bilderwelten zeigt. Der Künstler Memo erforscht mit seinen visuellen Installationen die Grenzen, "diese imaginären, fließenden Barrieren zwischen uns und unserer Umwelt, Körper und Seele, dem Materiellen und dem Immateriellen." Das Video ist zwar schön anzuschauen, doch entfaltet es seine Wirkung vor allem in diesem sakralen Raum. Ohne dieses Umfeld ist die Leinwand zwar immer noch imposant, inhaltlich aber nicht viel mehr als eine dekorative Spielerei.
Biennale Venedig 2024
Die Biennale in Venedig ist noch bis 24. November 2024 zu sehen. "Ich fühle mich durch diese prestigeträchtige Ernennung geehrt und bescheiden, vor allem weil ich der erste Lateinamerikaner bin, der die Internationale Kunstausstellung kuratiert, und sogar der Erste, der in der südlichen Hemisphäre ansässig ist“, wird der Kurator Adriano Pedrosa auf der Startseite zitiert.
60. Esposizione Internazionale d’Arte.
La Biennale di Venezia. Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere.
Die Tickets kosten zwischen 30-50 Euro.
Mehr Infos unter diesem Link.
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