Von Keller zu Speicher, von Zimmer zu Zimmer – ein halbes Jahr lang ist Kerstin Holme erst einmal nur durchs Haus gelaufen, gestiegen, manchmal sogar gekrochen. "Mein Sohn hat mich schon das Schlossgespenst von Tutzing‘ genannt", erzählt sie. Dabei ist das Spuken gar nicht Teil ihrer Jobbeschreibung, im Gegenteil: Kerstin Holme ist als Provenienzforscherin in aufklärerischer Mission unterwegs. Sie untersucht das Inventar der weitläufigen Evangelischen Akademie Tutzing im Schloss Tutzing am Starnberger See auf mögliches NS-Raubgut, also auf Kunstwerke, Möbel und andere Objekte, die vor allem jüdischen Bürger:innen in der Nazi-Zeit abgepresst oder gestohlen worden sein könnten.
247 Objekte hat Holme identifiziert, deren Herkunft sie näher erforscht, darunter Ölgemälde, Spiegel, Bibeln, Kruzifixe, Möbel, "das ganze Potpourri eines Schlosses eben". Unterstützt wird sie dabei von Akademiedirektor Udo Hahn, der sich in der Verantwortung sieht, historisches Unrecht in dem Haus aufzuarbeiten, in das die Denkwerkstatt 1947 einzog:
"Kirche muss sich an den Forderungen, die sie an andere erhebt, auch selbst messen lassen", sagt er. Und so habe er, nachdem er zwei Tagungen zum Thema Provenienzforschung an der Akademie mit entwickelt hatte, beschlossen: "Wir müssen der Geschichte unseres Schlosses noch einmal genauer nachgehen".
Provenienzforschung an der Evangelischen Akademie Tutzing
Udo Hahn tat, was nicht wenige deutsche Institutionen in dieser Situation inzwischen tun: Er beantragte eine finanzielle Förderung beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg. Denn Provenienzforschung, wie sie Kerstin Holme im Tutzinger Schloss betreibt, ist ein langwieriges Geschäft, das weit mehr Zeit und damit Geld braucht als die meisten Kulturinstitutionen zur Verfügung haben.
Um die Aufklärung vor allem des NS-Kunstraubs dennoch voranzutreiben, haben Bund, Länder und Kommunen vor zehn Jahren - am 1. Januar 2015 - das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste gegründet. Auftrag der neu geschaffenen Stiftung: Die Provenienzforschung in Deutschland finanziell zu fördern und fachlich zu unterstützen. Mehr als 400 Projekte an Museen, Universitäten, Archiven, Bibliotheken, aber auch von Privatleuten, privat getragenen Institutionen oder eines kirchlichen Trägers wie im Falle der Evangelischen Akademie Tutzing haben seither eine Förderung erhalten. Fast 60 Millionen Euro Fördergelder wurden seit 2015 bewilligt. Eine Bilanz, die das Zentrum zu seinem Zehnjährigen heute, am 10. Dezember, in Magdeburg feiert.
Schwerpunkt der Stiftung ist nach wie vor die Aufarbeitung des Raubs von Kulturgütern in der NS-Zeit, daneben wird die Forschung zu Kriegsverlusten im Zuge des Zweiten Weltkriegs unterstützt sowie das Unrecht, das zum Beispiel Republikflüchtigen oder Kunstsammlerinnen und -sammlern in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR widerfuhr. 2019 kam ein neues Thema hinzu, die Erforschung von Kulturgütern und menschlichen Überresten, die während der Kolonialzeit nach Deutschland gelangten. Zur grausigen Realität der Kolonialgeschichte gehört, dass nicht nur Kunstwerke und Alltagsgegenstände aus den besetzten Gebieten geraubt wurden, sondern auch Schädel und Gebeine, die europäischen Wissenschaftlern zur "Rasseforschung" dienen sollten.
Die Dimensionen und Ausprägungen unterscheiden sich, eines aber zeigt sich immer wieder: Wo Diktatur und Diskriminierung, Ausbeutung und Krieg herrschen, werden Menschen ihrer Kulturgüter beraubt, mal mehr, mal weniger systematisch. Provenienzforschung ist der mühsame Versuch, dieses Unrecht in jedem individuellen Fall dingfest zu machen, die Herkunft eines Gegenstands bis zu seinem einstigen rechtmäßigen Eigentümer zurückzuverfolgen, damit das geraubte Objekt dann möglichst auch zurückgegeben werden kann. Restitutionen mögen das Erlittene nicht wiedergutmachen.
Für die Opfer von Verfolgung kann ein einzelner Gegenstand dennoch ungeheuer wertvoll sein, als Erinnerung an ein ermordetes Familienmitglied, als Zeugnis einer unterdrückten indigenen Kultur.
Provenienzforschung ist damit auch ein Stück Erinnerungsarbeit. Woran aber erinnert wird, das wird von der Gegenwart definiert – und so rücken die (Un-)Taten der Vergangenheit oft erst mit erheblicher Verzögerung in das gesellschaftliche Bewusstsein. So hat es rund 100 Jahre gedauert, bis die deutsche Kolonialgeschichte hierzulande breiter diskutiert wurde. 70 Jahre nach Kriegsende erst wurde mit dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste eine zentrale, bundesweit agierende Institution zur Aufarbeitung vor allem des NS-Kulturgutraubs geschaffen. Eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit der DDR – in Ost und West – scheint noch bevorzustehen, doch ob und wie das geschieht, hängt vom gesellschaftlichen Klima, von der politischen Kultur ab. Und die zeigt aktuell beunruhigende Tendenzen: Rechte politische Kräfte erstarken, revisionistische Stimmen in Deutschland fordern den "Schlussstrich" unter eine schuldhafte Geschichte, die man sich gern wieder heldenhafter denken möchte.
Erinnerungskultur wird so zum Austragungsort ideologischer Kämpfe, denn im Streit um das Gedenken verhandelt eine Gesellschaft nicht nur die Vergangenheit, sondern auch ihre eigenen Werte.
Aufarbeitung des NS-Kulturgutraubs
Aktuell steht die Politik jedoch auch vor ganz konkreten juristischen Fragen. Die öffentlichen Sammlungen in Deutschland sind seit 1999 an eine Selbstverpflichtung zur Aufarbeitung des NS-Kulturgutraubs gebunden. Privatbesitzer*innen dagegen sind nicht verpflichtet, ihre Sammlungen auf Raubgut hin zu untersuchen und Kunstwerke zurückzugeben. Eigentum ist vom Grundgesetz geschützt, eventuelle Tatbestände wären ohnehin in der Regel verjährt. Wie die Nachfahr*innen der Opfer des Nationalsozialismus trotzdem zu ihrem späten Recht kommen können, ist momentan Gegenstand kontroverser Debatten, ein Gesetzentwurf "zur erleichterten Durchsetzung der Rückgabe von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut" wurde erst vergangene Woche im Rechtsausschuss des Bundestages diskutiert.
Umso wichtiger also, dass Institutionen wie die Evangelische Akademie Tutzing sich aus eigener Verantwortung auf den Weg machen und ihre Geschichte erforschen. Denn wenn jedes Bild einmal auf die Rückseite gedreht, jedes Möbel einmal verschoben wurde, dann ist hin und wieder eben doch eines dabei, das Auskunft über seine Geschichte gibt. So wie jener Schrank im Tutzinger Schloss, auf dessen Rückseite Provenienzforscherin Kerstin Holme zwei aufgemalte "Judensterne" entdeckt hat. In der Sprache der Provenienzforschung gilt so etwas als "rotes Objekt", als Gegenstand, der so gut wie sicher geraubt wurde. Wem der Schrank einst gehört hat, wer seine Besitzer einmal waren, darüber schweigt er sich bislang aus. Aber Kerstin Holme ist ja auch noch lange nicht fertig.
Kerstin Holme erforscht die Provenienzgeschichte in Tutzing
Die Kunsthistorikerin Kerstin Holme erforscht in Tutzing die Provenienzgeschichte der Kunstwerke, Möbel und Gegenstände an der Evangelischen Akademie in Tutzing. Nach ihrem Studium in München hat sie unter anderem beim Auktionshaus Christies gearbeitet und die Geschäftsstelle von PIN der Pinakothek der Modern geleitet. Seit Herbst 2022 verantwortet Kerstin Holme das Provenienzforschungsprojekt "Schloss Tutzing” der Evangelischen Akademie Tutzing.
Ein Interview zu ihrer Arbeit in Tutzing findet sich unter diesem Link.
Projektfinder Deutsches Zentrum Kulturgutverluste
Die interaktive Landkarte des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste ermöglicht eine Suche nach Projekten. Über die Kartenansicht und verschiedene Filter lassen sich gezielt einzelne Projekte in den Bundesländern recherchieren.
Kommentare
Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.
Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.
Anmelden