Fast 30 Jahre forschte und schrieb Hermann Samuel Reimarus im Geheimen an seinem Lebenswerk. Es waren die Texte der Bibel, an denen sich der Professor für orientalische Sprachen am Hamburger Gymnasium Johanneum abarbeitete. Als Reimarus’ »Apologie« nach seinem Tod vom Aufklärer und Dichter Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) in Fragmenten veröffentlicht wurde, sorgten diese für exakt den Aufruhr, den der Autor befürchtet hatte. Denn in seiner Heimatstadt Hamburg herrschte zur Barockzeit – wie in anderen protestantischen Landen Deutschlands auch – die lutherische Orthodoxie.

Dass die Zusammenstellung der biblischen Bücher, der sogenannte Kanon, nicht »vom Himmel gefallen«, sondern Menschenwerk sein könnte, war damals noch ein ketzerischer Gedanke. Aber wenn die Texte der Bibel eine Geschichte haben, wie ist es dann um die »Verbalinspiration« genau bestellt, um die Heiligkeit der heiligen Texte »Buchstabe für Buchstabe«? Derlei Fragen lagen damals in der Luft, und Reimarus gehörte zu den Ersten, die ihnen entschlossen und wissenschaftlich nachgingen.

Fragmente der Vernunft

Dabei war Hermann Reimarus nicht nur äußerlich ein frommer Mann. Der angesehene Professor, Sohn einer Theologenfamilie, ging regelmäßig zum Gottesdienst, feierte Abendmahl, distanzierte sich niemals öffentlich von der Kirche. Knapp zehn Tage vor seinem Tod lud er seine engsten Freunde zu sich ein und erklärte ihnen, dies sei sein letztes Abschiedsmahl.

Da war er schon lange einer der angesehensten Männer der guten Gesellschaft in der Hansestadt. Er war Gründungsmitglied der Hamburger Patriotischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe sowie Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. Bekannt gemacht hatte ihn eine Vielzahl von Schriften – darunter eine beredte philosophische Verteidigung des christlichen Glaubens gegen zeitgenössische Pantheisten und Atheisten. Seine »Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« wurden viel gelesen und mehrfach aufgelegt.

Inspiriert vom Universalgelehrten Christian Wolff und den englischen Deisten, war Rationalist Reimarus überzeugt: Gottes Güte und Weisheit lassen sich in der Natur nachweisen; die sich so ergebende »natürliche Religion« mache im Grunde jede andere Religion mit ihren Satzungen und Setzungen entbehrlich. Das einzige göttliche Wunder sei die Schöpfung; darüber hinaus andere Wunder anzunehmen widerspreche der Weisheit und Vollkommenheit Gottes. Um gottesgläubiger Christ zu sein, brauche man sie jedenfalls nicht.

Zeug, das der Vernunft himmelschreiend entgegensteht

Doch Zweifler am rechten Glauben leben zu allen Zeiten gefährlich. Vor allem wenn sie wie Reimarus der Meinung sind, von den Kanzeln werde Zeug gepredigt, das der Vernunft himmelschreiend entgegensteht. Oder die ebenfalls sehr aktuelle Frage stellen (die nicht nur das Christentum betrifft): Wie verhält es sich mit der Göttlichkeit eines Texts, wenn der sich an vielen Stellen offenkundig widerspricht? Oder fragen, ob heilige Texte wirklich Buchstabe für Buchstabe »offenbart« sein können, wenn bei genauer Betrachtung offenbar wird, dass diese heiligen Texte selbst eine Überlieferungsgeschichte haben müssen.

 

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781)
Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) lernte als Dramaturg am Hamburger Theater die Kinder und Erben des Hermann Samuel Reimarus kennen. Von ihnen bekam der Dichter Auszüge aus Reimarus' »Apologie«. Als er sie veröffentlichte, löste er damit einen Skandal aus, der als »Fragmentenstreit« in die Literatur- und Theologiegeschichte eingegangen ist.
Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht, in fünf Aufzügen, 1779, 276 S., Urdruck der Erstausgabe
Als der Wolfenbütteler Herzog seinem Bibliothekar Lessing im immer polemischer geführten »Fragmentenstreit« den Mund verbot, setzte der Dichter den Kampf mit anderen Mitteln fort: Er schrieb ein »dramatisches Gedicht« mit dem Titel »Nathan der Weise«. Lessings »Nathan« gilt bis heute als meisterhaftes Plädoyer für Toleranz und Humanität (Foto der der Erstausgabe von 1779, die in einer Auflage von vierzig Exemplaren auf Subskriptionsbasis erschien).

 

Dass der aufklärerische Philologe Reimarus bei seiner intensiven, aber theologisch mitunter etwas einfältigen Kritik der biblischen Texte schon lang das Kind der Offenbarung mit dem Bad ausgeschüttet hatte, wussten nur seine Familie und seine engsten Freunde: »Die Schrift mag im Verborgenen, zum Gebrauch verständiger Freunde liegen bleiben; mit meinem Willen soll sie nicht durch den Druck gemein gemacht werden, bevor sich die Zeiten nicht aufklären«, verfügte Reimarus über sein geheimes Lebenswerk.

Einer seiner Erben war sein Sohn, der Arzt Johann Albert Heinrich Reimarus (1729-1814), Er gilt als deutscher Erfinder des Blitzableiters: Reimarus jun. ließ 1769 am Turm der Hamburger St. Jacobikirche eine der knapp 30 Jahre zuvor erfundenen »Franklin-Stangen« montieren, die er in England kennengelernt hatte. Es war aber wohl die andere Erbin, die Professoren-Tochter Elise, die die Abschrift einiger Kapitel der brisanten »Schutzschrift« an Gotthold Ephraim Lessing weitergab.

Lessing konnte ohne Zensur publizieren

Der Dichter war 1767 als Dramaturg nach Hamburg gekommen und hatte sich mit den Reimarus-Kindern angefreundet. Vielleicht waren die drei der Ansicht, dass die Zeiten sich nicht von selbst aufklären. Jedenfalls beschlossen sie kurz nach Reimarus’ Tod, die Schrift anonym zu veröffentlichen.

Als Lessing 1770 Leiter der herzöglichen Bibliothek in Wolfenbüttel wurde, hatte er dazu die Möglichkeit: Der Herzog gestattete ihm, eine Literaturzeitschrift herauszugeben – unzensiert! Ab 1774 publizierte Lessing darin sieben ausgewählte »Fragmente« der Reimarus-Schrift, die er mit »Gegensätzen des Herausgebers« versah.

»Von Duldung der Deisten: Fragmente eines Ungenannten« war der Titel des ersten Fragments. Als Lessing 1777 weitere Fragmente unter dem Titel »Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend« veröffentlichte, knallte es. Schon die einzelnen Überschriften mussten die Vertreter der herkömmlichen kirchlichen Lehre provozieren: »Von Verschreiung der Vernunft auf den Kanzeln« oder »Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten« oder »Dass die Bücher A.T. nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren«. Reimarus zeigt darin, dass sich die Vorstellung einer unsterblichen Seele im Alten Testament erst entwickelt. Weil er diese Vorstellung für die Voraussetzung einer Offenbarungsreligion hält, stellt er die Offenbarung grundsätzlich infrage.

Folgenreicher »Fragmentenstreit«

Und in Sachen Auferstehungsgeschichte argumentierte Reimarus plausibel, die Jünger hätten zu Jesu Lebzeiten an diesen als politischen Messias des Judentums geglaubt. Die Erwartung seiner baldigen Wiederkunft sei eine Konstruktion der Jünger nach Jesu Tod. Das sehen heutige Neutestamentler nicht wesentlich anders. Aus den Differenzen der Evangelienschriften glaubte Reimarus jedoch nichts anderes ableiten zu können als einen Betrug der Jünger Jesu, die den Leichnam Jesu aus dem Grab gestohlen hätten.

Der publizistische Schlagabtausch, der nun einsetzte, ging als »Fragmentenstreit« in die Theologie- und Literaturgeschichte ein. Dutzende Polemiken wurden veröffentlicht. Am heftigsten geriet sich Lessing mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717-1786) in die Haare. Lessings »Anti-Goeze« und die Gegenschriften Goezes sind das Dokument dieses Kampfs zwischen Aufklärung und religiöser Dogmatik. Wie Lessing focht auch Goeze weniger mit dem Florett als mit dem Säbel, nur eben für die Positionen der lutherischen Orthodoxie: »Wahrlich, Herr Lessing muss wissen, dass sein Vorrat an Stinktöpfen unerschöpflich sei ...« Lessing erwiderte: »Es ist erlaubt, den Eimer faulenden Wassers, in welchem Sie mich ersäufen wollen, tropfenweise auf den entblößten Schädel fallen zu lassen.«

In Lessings »Nathan« steckt ein gutes Stück Reimarus

Dass Lessing selbst so sehr in den Fokus geriet, lag auch daran, dass er bewusst den wahren Urheber der »Fragmente« verschleierte. Obwohl er sich in seinen Kommentaren immer wieder von Reimarus distanzierte, wurde er für die Inhalte verantwortlich gemacht. Wer wirklich hinter dem Skandaltext stand, kam erst 1813 heraus: Kurz vor seinem Tod vermachte der Blitzableiter-Reimarus die Originalhandschrift seines Vaters der Hamburger Stadtbibliothek und eine Abschrift der Universitätsbibliothek Göttingen. Über den »Fragmentenstreit« in Vergessenheit geraten, erschien der gesamte Text der »Apologie« erst 1972, mehr als 200 Jahre nach ihrer Entstehung, erstmals als Buch.

Als der Streit zwischen Aufklärer Lessing und dem orthodoxen Goeze-Lager immer mehr eskalierte, zog Lessings Herzog die Notbremse: Er entzog seinem Bibliothekar im August 1778 die Zensurfreiheit.

Doch Lessing gab sich nicht geschlagen. Seine private Reimarus-Schlacht um die Vernunft und die »natürliche Religion« setzte er mit den Mitteln der Dichtkunst fort: 1779 veröffentlichte er sein bis heute gefeiertes Toleranz-Stück »Nathan der Weise«. Kaum einer weiß: Im »Nathan« steckt auch ein gutes Stück Reimarus.