"Meine Mutter", erinnert sich der 34-jährige Nachwuchsschriftsteller, "hasste niemanden so wie den Gendarm und log aus Instinkt, wenn ein solcher ins Haus kam und sie ausfragen wollte über unsere Streiche." Das wache Misstrauen gegenüber Behörden und bürgerlicher Ordnung war dem "Voralpen-Gorki", wie sich der 1894 im Dorf Berg am Starnberger See geborene und vor 50 Jahren, am 28. Juni 1967, in New York gestorbene Oskar Maria Graf selbst gern nennen ließ, in die Wiege gelegt worden. Doch Graf war mehr als ein scharfzüngiger Bürgerschreck, der das anarchistisch angehauchte Künstlerleben der Schwabinger Boheme liebte und am Provozieren seine Freude fand.

Unter den verb(r)annten Dichtern nimmt er noch heute den Rang eines bunten Exoten ein. Graf gilt als krachlederner Widerständler, als Prachtexemplar eines sprachbegabten alpenländischen Bierdimpfls, den lediglich die eingefleischte Dickköpfigkeit seiner Rasse in den Kampf gegen die braunen Gleichmacher getrieben habe. Eine Kreuzung aus Mühlhiasl, Michael Kohlhaas und Willy Millowitsch auf Bayerisch, ein Unikum, das zwischen Schuhplattlertänzen und Hofbräuhaus-Gemütlichkeit wirre politische Reden geführt haben muss.

"Es war immer ›bloß das Holz‹"

An solchen Vorstellungen ist der Dichter selbst nicht gerade unschuldig. In Schwabing, aber auch in der Berliner Literaturszene gab er sich liebend gern als ungeschlachter bayerischer Seppl und verteilte Visitenkarten mit dem hübschen Aufdruck "Oskar Maria Graf, Provinzschriftsteller. Spezialität: ländliche Sachen". Breit gebaut, mit einem vierkantigen Schädel und großen, abstehenden Ohren, unterstrich er den derben Eindruck noch, indem er in der Öffentlichkeit in Lederhosen und Janker auftrat – ob er nun im noblen Münchener Cuvilliés-Theater las oder in Moskau beim sowjetischen Schriftstellerkongress zu Gast war.

Dabei könnte das Zerrbild längst korrigiert sein. Spätestens, seit Literaturforscher in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek und im Nachlass von Grafs Witwe zahlreiche vergessene Reden und Aufsätze gefunden haben, die das Bild eines ebenso engagierten wie scharfsinnigen politischen Denkers entstehen lassen. Der Urbayer als Muster eines weitläufigen, toleranten Europäers, der auf Chauvinismus und nationalen Dünkel überaus empfindlich reagiert. Der erfolgreiche Autor derb-realistischer Dorfgeschichten als exzellenter Kenner seiner Schriftstellerkollegen, die er im Ausland eifrig bekannt macht und gleichzeitig unerbittlich kritisiert, wenn sie es an Mut fehlen lassen.

Oskar Maria Graf, Berlin 1928.
Oskar Maria Graf, Berlin 1928.

Menschenfreund und Humanist

Vor allem aber war Oskar Maria Graf ein grundehrlicher Humanist, ein Menschenfreund, der sich dagegen wehrte, wenn die kleinen Leute als Kanonenfutter oder Stimmvieh missbraucht werden sollten – von wem auch immer. Im Gegensatz etwa zu Ludwig Thoma, der die Welt bei aller kritischen Grundeinstellung immer aus dem Blickwinkel des Bürgers und behäbigen Bauern sah, blieb der Sohn eines Bäckers und Kleinökonomen (vier Kühe, ein Pferd und ein halbes Dutzend Schweine hatten die Grafs) seinem Milieu treu.

Schon als noch "blutjunger dummer Bauernbub" war Oskar Maria Graf begierig zu lernen. Als er begeistert irgendeine Abenteuergeschichte von den Feldherren Tilly und Wallenstein im Dreißigjährigen Krieg verschlang und er hastig seine Weisheit über militärisches Heldentum heraussprudelte, schüttelte der Vater nur den Kopf und sagte: "Ah, Bub, das ist ja alles gar nicht wahr. Das ist ja ganz anders gewesen! Der Tilly hat nämlich im Böhmischen sehr viel Holz gehabt, und der Wallenstein hat bei uns im Bayrischen recht viel gehabt – bloß deswegen haben sie Krieg geführt."

Diese Bemerkung seines Vater, der nicht viel von Geschichte wusste, aber mehr Durchblick bewies als manche Fachleute, brachte Graf nicht mehr aus dem Kopf. "Seitdem habe ich mich stets, wenn ich eine geschichtliche Begebenheit las, gefragt: ›Was steckt nun eigentlich dahinter? Was war der Grund?‹ Ich muss gestehen, es war immer ›bloß das Holz‹. Es hat nur immer einen anderen Namen gehabt, und es hat stets den Herrschenden gehört. Das Volk muss nur immer dafür aufkommen und bluten. Erst wenn (...) kein Volk sich mehr ›wegen des Holzes‹ in Fanatismus und Kriege treiben lässt, beginnt die wahrhafte Demokratie."

Nach dem frühen Tod des Vaters floh der 17-jährige Oskar nach einer hässlichen Prügelszene mit seinem älteren Bruder mit 300 Mark in der Tasche nach München – damals die Hauptstadt der deutschen Kultur, mit einer vitalen Kunst- und Literaturszene.

AUSSTELLUNGSTIPP

Das Literaturhaus München würdigt den großen Bayern mit der Ausstellung "Oskar Maria Graf – Rebell, Weltbürger, Erzähler" (bis 5. November).

Öffnungszeiten: Mo-Mi, Fr 11-19, Do 11-21.30, Sa/So 10-18 Uhr
Eintritt 6/4 Euro; Katalog: 10 Euro.
Internet: www.literaturhaus-muenchen.de

"Verbrennt mich!"

Der neu zugezogene Provinzler hatte große Pläne, schrieb Dramen und Geschichten, setzte aber bloß ein paar witzige Aphorismen bei einer Zeitung ab und musste sich seinen Lebensunterhalt als Liftboy, Bäckereigehilfe, Anstreicher und Hilfsarbeiter bei der Post verdienen. Er fand Gefallen am "Sozialistischen Bund", verfasste flammende politische Manifeste und schaffte es mit gekonnter Schauspielerei, als "­Idiot" aus dem Ersten Weltkrieg nach Hause in die Irrenanstalt geschickt zu werden.

Nun stellten sich auch die ersten literarischen Erfolge ein: Gedichtabdrucke in renommierten Zeitungen, ein "Bayerisches Lesebücherl" mit Erzählungen und Schnurren, ein Roman im Auftrag des katholischen Borromäusvereins, in fünf Wochen heruntergetippt. 1928 der Durchbruch mit der Autobiografie "Wir sind Gefangene", die Thomas Mann als "wahres Kunstwerk" lobte. Grafs störrisch-eigenwillige Sprache, der alles Unechte und Aufgeblasene entlarvende Dialekt, die derbe Direktheit der Darstellung, die Nähe am Leben des einfachen Volks – all das überzeugte.

Vom "Volk" ist bei Oskar Maria Graf sein Leben lang die Rede. Er liebt es, fühlt sich eins mit ihm – ohne es zu glorifizieren. Das Volk, sagte er 1944 in Chicago, "ist für mich immer etwas anderes gewesen als das, was die beflissenen Abteilungsleiter der Branche ›Weltgeschichte‹ darunter verstehen." Er weiß, dass das Volk stark und träge zugleich ist, Hoffnungsträger und müdes Produkt seiner Leidensgeschichte, konkreten Bedingungen unterworfen und doch fähig zum überraschenden revolutionären Aufbäumen.

"Heimat ist Sprache"

Die NS-Machthaber versuchten, seine Bauerngeschichten als Blut- und Bodenliteratur zu vereinnahmen, was den aufrechten Sozialisten und Kriegsgegner wütend machte: "Verbrennt mich!", forderte er in einem offenen Brief, der in der Weltpresse Beachtung fand. "Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbanden gelangen."

"Heimat ist Sprache", sagte Graf. Sein berühmtestes Werk – "Das Leben meiner Mutter" – beendete er im Exil in New York. Mit Unterstützung von Thomas Mann erschien es 1940 erst einmal auf Englisch. Das Geld reichte trotzdem nicht. Den Lebensunterhalt bestritt seine geliebte Frau Mirjam, eine Cousine der deutsch-jüdischen Dichterin Nelly Sachs. Sie arbeitete als Redaktionssekretärin und Journalistin des Emigranten-Blatts Der Aufbau.

Kritisch beobachtete "OMG" auch die Entwicklungen in seinen Gastländern. Den Vereinigten Staaten verübelte er ihre rassistischen Tendenzen und später den Vietnamkrieg. Während des antikommunistischen Hexenwahns nach dem Krieg wurde er vom FBI überwacht, die Staatsbürgerschaft erhielt er erst 1958. Genauso wach verfolgte er das Wiederaufflackern antidemokratischer und judenfeindlicher Strömungen im Wirtschaftswunder-Deutschland, in das heimzukehren er nach dem Krieg so lange gezögert hat, bis es nicht mehr möglich war: Bei seinen spärlichen Besuchen habe ihn das "wiedererwachte, engstirnig provinzielle deutsche Tüchtigkeitsprotzentum" angewidert, erklärte er 1961.

"Christ und Sozialist", der nicht mehr in Deutschland leben konnte

Graf hätte sich wohl kaum so gut als Kronzeuge des "anderen Deutschland" geeignet, wäre er kein so differenzierter Beobachter und Denker gewesen. Dem Marxismus warf er vor, an die Stelle des Menschen die "Klasse" gesetzt zu haben: "Nicht mehr als ein seelisch bestimmtes, individuell eigentümliches Wesen wird der Mensch anerkannt, er wird gleichsam zu einem werkzeugmäßigen Objekt umgeprägt, zum ›Proletarier‹, zu einem nur noch wirtschaftlichen und politischen Gebrauchsbegriff."

Und so entpuppt sich der alpenländische Paradekommunist bei genauerer Betrachtung als widerborstiger Einzelgänger, treu nur seinem empfindlichen Gewissen, unbequem zwischen alle Stühle hingeklotzt, ein vierschrötiger und doch ganz rein-naiver Parzival.

Wie ein Evangelium pflegte er wieder und wieder das lakonische Wort seiner Mutter zu zitieren, jawohl, die Welt sei schlecht, es komme aber darauf an, dass wir uns änderten. Für Graf war die Allerweltsweisheit konkretes politisches Programm. Er verstand sich als "Personalsozialist" (den Begriff hat er von Eugen Kogon übernommen). Die Macht des Einzelnen, sofern er nur über moralischen Mut und soziale Einsicht verfüge, illustriert Graf auch am Beispiel des Wanderrabbis aus Nazareth – hat er sich doch zeitlebens als "Christ und Sozialist" gefühlt.

1967 starb Oskar Maria Graf in New York. Es sollte noch ein Jahr dauern, bis er in seine bayerische Heimat zurückkehrte: An seinem ersten Todestag wurde die Urne mit Grafs Asche auf dem Friedhof München-Bogenhausen beigesetzt.