Mit den Matrosen fing es an. Kriegsmüde waren sie, dem Befehl zum Auslaufen der Flotte zu einem letzten Gefecht wollten sie am 30. Oktober 1918 nicht folgen – Meuterei. Von Kiel und Wilhelmshaven aus verbreitete sich das Aufbegehren gegen den Krieg und die Obrigkeit über das gesamte Land, Rathäuser und Staatsbehörden wurden durch Arbeiter- und Soldatenräte übernommen. Vorbild: die Oktoberrevolution in Russland ein Jahr zuvor. Alle Macht dem Volke. Sturz der gekrönten Häupter.
Den bayerischen König traf es zuerst: Nachdem unter der Führung des USPD-Politikers Kurt Eisner Münchner Soldaten die Macht übernommen und Räte gegründet hatten, floh Ludwig III. am Abend des 7. Novembers mit kleinem Hofstaat und in Zivilkleidung mit dem Auto an den Chiemsee. Am 9. November gab Reichskanzler Max von Baden in Berlin den Thronverzicht des Kaisers bekannt. Hunderttausende Arbeiter befanden sich auf den Straßen der Reichshauptstadt und streikten. Der führende SPD-Politiker Philipp Scheidemann nutzte die Gunst der Stunde, trat vom Mittagessen im Speisesaal des Reichstagsgebäudes auf einen Balkon und rief: "Es lebe die deutsche Republik!" Zwei Stunden später proklamierte Karl Liebknecht, der Kopf des revolutionären Spartakusbunds, die Republik ein zweites Mal. Sicher ist sicher.
Revolution, Abdankung, Republik – Kirchenmann, was nun?
Wilhelm II., überrumpelt von den Ereignissen, begab sich ins niederländische Exil und legte am 20. November auch die preußische Königskrone nieder.
Revolution, Abdankung, Republik – Kirchenmann, was nun? Denn Wilhelm II. war auch summus episcopus der Altpreußischen und von sechs weiteren Landeskirchen gewesen, Gleiches galt für die anderen gestürzten Landesfürsten. Das Summepiscopat, das Landesherrliche Kirchenregiment, war faktisch vorbei und die evangelische Kirche ohne Leitung.
Unter den kirchlichen Amtsträgern breitete sich Angst aus, vor allem, da die SPD sich als mächtigste politische Kraft durchsetzen konnte und gemeinsam mit der sozialistischen USPD die vorläufige Reichs- und viele Landesregierungen stellte. Und weder Sozialdemokraten noch Sozialisten galten als Freunde der Kirche, die nun schutzlos den revolutionären Mächten ausgeliefert zu sein schien. Das maßgebende Erfurter Programm von 1891 der SPD erklärte Religion zur Privatsache und forderte die "Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu religiösen und kirchlichen Zwecken".
Angst vor "französischen Verhältnissen"
Drohten nun französische Zustände? Das Nachbarland war seit 1905 ein laizistischer Staat, die dortigen Kirchen privatrechtliche Vereine. In den deutschen Staaten hingegen hatten die evangelischen Landeskirchen bislang viele Privilegien und staatlichen Schutz genossen: Als Körperschaften des öffentlichen Rechts konnten sie Steuern erheben und erhielten staatliche Zahlungen. Kirchenbeamte genossen den Status von Staatsbeamten. Die kirchlichen Feiertage waren geschützt, ebenso die Freiheit zur Abhaltung von Gottesdiensten und die kirchlichen Besitztümer. An Schulen gab es Religionsunterricht, an den staatlichen Universitäten theologische Fakultäten. Diese Privilegien waren Ausdruck der herausragenden nationalen Bedeutung der Kirche. Im Gegenzug führten der Fürst und sein Verwaltungsapparat die Aufsicht.
Dieses Arrangement war nun passé, und die Sozialisten machten ernst: Strikte Trennung von Kirche und Staat, Befreiung der Schule von kirchlicher Bevormundung, ließ die vorläufige preußische Regierung am 13. November verlautbaren. Der neue preußische Kultusminister Adolph Hoffmann von der USPD strebte die komplette Enteignung der Kirchen an. Sie sollten nur mehr "private Religionsgesellschaften" unter staatlicher Aufsicht werden. Zum 1. April 1919 sollten alle Staatsmittel gestrichen werden. Religionsunterricht wurde zum Wahlfach erklärt, gemeinsame religiöse Feiern in den Schulen verboten.
Belastetes Verhältnis zu Sozialdemokraten und Zentrum
Doch bereits am 1. Januar musste Hoffmann zurücktreten, seine Ankündigungen waren ein Schrecken mit Ende geblieben. Eine Massenbewegung gegen die geplanten Änderungen hatte sich formiert, und Berliner Christen stürmten nach einer Großkundgebung das Ministerium. Jedoch: Das Verhältnis der Kirchen zur Demokratie und zur SPD blieb nachhaltig belastet.
Während der revolutionären Unruhen, die vor allem in Berlin im Winter 1918/19 anhielten und mehr als 1200 Menschenleben forderten, kam es zu keinen ernsthaften Zusammenstößen zwischen Kirche und Räten. Einzelne Kirchen wurden zu Versammlungsstätten erklärt, es gab Beleidigungen und Beschwerden über Geistliche, die auf der Straße nicht grüßten. Aufsehen erregten Kirchenglocken, die nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 läuteten.
Der 9. November war ein Tag der großen Veränderungen, für manchen auch der "schwärzeste Tag der deutschen Geschichte", wie es im Kirchlichen Jahrbuch später hieß. In der Demokratie geht die Macht vom Volk aus, nicht von Gott. Religion legitimierte nicht mehr die politische Ordnung. Für konservative Theologen und Pfarrer wie Gottfried Traub standen die revolutionäre Regierung und die Demokratie im Widerspruch zur göttlichen Ordnung: "Nur die Obrigkeit, welche sich nicht aus Straßendunst und Mehrheitsbeschluß, nicht aus Polizeiwillkür und Parteidünkel, nicht aus Verfassungen und juristischen Erörterungen, sondern aus der Verantwortlichkeit vor Gott ableitet", könne anerkannt werden, schrieb er mit Verweis auf Römer 13, 1 ("Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott").
Trennung von Kirche und Staat als Chance
Gleichzeitig gab es auch Kirchenvertreter, die in den Umwälzungen eine große Chance für die evangelische Kirche sahen.
Ecclesiam habemus? Otto Dibelius, der spätere Bischof von Berlin und Brandenburg, nannte den 9. November 1918 im Rückblick den "Geburtstag der freien selbstständigen evangelischen Kirche in Deutschland!". Zwar sei es verdrießlich, dass die Kirche ihre Freiheit den Revolutionären verdanke. "Aber sollen wir deswegen die ganze kirchliche Entwicklung, die mit dem Jahre 1918 eingesetzt hat, für ein Teufelswerk erklären, das wieder beseitigt werden muß?"
Der liberale Pfarrer Ludwig Wessel begrüßte die Trennung von Kirche und Staat sogar ausdrücklich. Jetzt, so sagte er bei einer Versammlung von 250 Berliner Pfarrern im Frühjahr 1919, könne eine demokratische Kirchenreform erfolgen, den Synoden mehr Einfluss gegeben werden. Er erntete große Zustimmung. "Wir brauchen viel mehr Arbeiter und sogenannte kleine Leute in den kirchlichen Vertretungen, Kirchenvorständen und Synoden", forderte auch der Kirchenjurist Friedrich Koch in einem Beitrag für das Kirchliche Jahrbuch. Die Zeit der Volkskirche sei gekommen, "frei von den Rechten, die dem König als Träger des Landesherrlichen Kirchenregiments bisher zustanden".
Der Kaiser ging - und nicht nur die Generäle blieben
Wenngleich es auch in konservativen Kreisen seit dem 19. Jahrhundert Emanzipationsbestrebungen gegenüber der staatlichen Aufsicht gegeben hatte, war die Zeit für einen echten Neubeginn noch nicht reif. Sicherheit und Ordnung – das galt für Staat und Kirche. "In unverständlichem Wahnsinn zerschlug die Revolution alles, was war, alte Autoritäten und bewährte Ordnungen, ohne sich auch nur zu überlegen, was sie an die Stelle setzen sollte", schrieb der Berliner Oberhofprediger Ernst von Dryander in seinen Memoiren.
Doch eigentlich blieb nach kurzem Aufbäumen viel von den alten Strukturen erhalten. Vom Rat der Volksbeauftragten, der vorläufigen Regierung, ging keine revolutionäre Wirkkraft aus, durch die Zusammenarbeit mit der Armee und der Einigung zwischen Gewerkschaften und Industrie entstand relative Ruhe, aber auch Stillstand. Grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzungen war schnell ein Riegel vorgeschoben worden.
Gleiches galt für die evangelische Kirche. Sie formierte sich in 28 Landeskirchen neu, 1922 wurde der Deutsche Evangelische Kirchenbund gegründet. Die Synoden erhielten mehr Einfluss, ohne aber die Macht der Kirchenregierung wesentlich einzuschränken. Entsprechend der Einführung des Wahlrechts auch für Frauen in der Politik standen ihnen nun theoretisch auch die Türen zu kirchlichen Leitungsämtern offen. In der Realität wurden einige wenige Gemeindekirchenräte.
Erst nach 1945 kam der Protestantismus in der Demokratie an
Tief greifenden Veränderungen wurde eine Absage erteilt: "Wir haben in der Kirche keine Revolution erlebt, und wir haben auch keinen Anlaß, sie nachträglich zu machen", hielt der Präses der Rheinischen Provinzialsynode, Walther Wolff, im November 1919 in Barmen fest. Dazu bedurfte es einer erneuten Katastrophe, die zwanzig Jahre später begann und Millionen Menschen das Leben kostete: der Zweite Weltkrieg.
Vorerst sollte alles beim Alten bleiben – und dafür hieß es, möglichst viele kirchenfreundliche Politiker in die verfassunggebende Nationalversammlung zu wählen. Die Gemeinden und Kirchenvertreter riefen zur Beteiligung auf. "Die Kirche ist politisch neutral – aber sie wählt deutsch-national" lautete ein beliebter Spottvers der Weimarer Republik. Dessen Kernaussage traf bereits 1919 zu: Über den Parteien stehend, so verstand sich die Kirche, jedoch hielt sie ihre Glieder dazu an, nur solche Parteien zu unterstützen, die kirchliche Interessen vertraten. Infrage kamen da eigentlich nur die nationalkonservative DNVP, die rechtsliberale DVP und das Zentrum – Letzteres war als katholische Partei für evangelische Wähler selbstverständlich tabu. Otto Dibelius empfahl den Berliner Pfarrern, ihre Gemeinden über die richtige Wahloption zu belehren und dann am Wahltag nach dem Gottesdienst gemeinsam zum Wahllokal zu gehen.
Erstwählerinnen für die Kirche
Insbesondere die Erstwählerinnen sollten mobilisiert werden, rechneten die Kirchenobersten doch damit, dass gerade den Frauen die kirchlichen Belange besonders am Herzen lägen. Das Kirchliche Familienblatt für die evangelische Gemeinde Steglitz proklamierte daher: "Deutsche Frauen, rettet die Zukunft unseres Volkes." Frauen sollten die Partei wählen, "die für Vaterland und Kirche eintritt". Jede Partei, die "Kandidaten aufstellt, die nicht zu unserer Kirche gehören", sei eine Partei, die "kein Herz für unsere Kirche" habe. Eine klare Absage an SPD und USPD, in deren Reihen sich etliche Konfessionslose befanden.
Die Ergebnisse vom 19. Januar 1919 fielen ernüchternd aus: Wahlsieger wurde die SPD mit 37,9 Prozent. Gemeinsam mit Zentrum und der liberalen DDP bildete sie fortan die vorläufige Regierung – die "Weimarer Koalition". Die DNVP erhielt nur 10,3 Prozent der Stimmen, die DVP gar nur 4,4 Prozent. Wie konnten hier die evangelischen Belange genug Einfluss erhalten? Aufregung lohnte sich nicht, das Bewährte setzte sich dennoch durch – und wurde sogar noch verbessert. Daher kann die evangelische Kirche sogar als Gewinnerin der Revolution verstanden werden.
Die von der Nationalversammlung verabschiedete Weimarer Reichsverfassung, die am 14. August 1919 in Kraft trat, sicherte nämlich den Kirchen ihre vormaligen Privilegien zu. In Artikel 137, Absatz 1 heißt es:
"Es besteht keine Staatskirche."
Aber die Kirchen blieben Körperschaften des öffentlichen Rechts und waren zudem befreit von der landesherrlichen Aufsicht. Die Kirchenleitung ging auf die Synoden über, die Konsistorien wurden rein kirchliche Behörden. Die Verfassung gewährte individuelle Glaubens- und Gewissensfreiheit, sicherte den Religionsunterricht, die Feiertage und die Spezialseelsorge in Reichswehr, Polizei, Krankenhäusern und Gefängnissen und trug so der Bedeutung der Kirche im gesellschaftlichen Leben der Menschen Rechnung – gegen die Versuche der SPD, die innere Demokratisierung der Kirche zur Voraussetzung für die ihr eingeräumten Sonderrechte zu machen.
Bis heute sind diese Gesetze gültig: Die Artikel 136 bis 141 der Weimarer Reichsverfassung sind als Artikel 140 Bestandteil des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.