Herr Wolf, Sie sprechen in der Vorstellung des "MUT"-Projektes von "Not macht erfinderisch" und "krisenhaften Zeiten" – bezieht sich das alles ausschließlich auf die Corona-Lage oder generell auf die Lage der evangelischen Kirche?
Michael Wolf: Der Beschluss, dieses Projekt anzugehen, wurde auf der Landessynode 2019 und damit schon weit vor Corona gefasst. Das MUT-Projekt ist kein "Not-Projekt", sondern ein Zukunftsprojekt. Wir alle spüren natürlich Veränderungen und sind an vielen Stellen am Überlegen, wie denn die Kirche der Zukunft aussehen kann. Gibt es nur noch die Ortsgemeinden und weniger übergeordnete Strukturen? Oder wird die Kirchenlandschaft vielfältig bunt sein und es gibt eine vielfältige Form von Gemeinden und Orten des Evangeliums?
Die Mitgliederzahlen und die Einnahmen sinken, das Personal wird weniger – da ist es wichtig miteinander zu überlegen und Erfahrungen zu sammeln, wie die Kirche für Menschen relevant bleibt.
Man darf nie stehen bleiben. Große Firmen wie Audi, machen es vor. Dort gibt es eine Abteilung für Forschung und Entwicklung, die sich mit genau solchen Fragen befasst und sich auch mal im experimentellen Raum bewegt und die Komfortzone verlässt. Natürlich sind wir kein wirtschaftlicher Konzern, aber dennoch glaube ich, dass man Neues ausprobieren und wagen sollte.
Gibt’s hierzu schon Vorbilder?
Wolf: In Mitteldeutschland oder im Rheinland beispielsweise haben Landeskirchen sogenannte Erprobungsräume, in Westfalen gibt es das Projekt "Teamgeist", in Berlin die "Dritten Orte". Überall dort wird überlegt, wie Kirche zu unterschiedlichen Zeiten und an ungewohnten Plätzen und in neuen Formaten gelebt werden kann. Das Signal, das MUT aussenden möchte, lautet: "Probiert mal etwas aus, ohne die klassisch deutsche Machbarkeitsstudie, sondern loslegen, eben auch mal verrückte und unkonventionelle Ideen starten und dabei sicher auch mal Fehler machen und daraus lernen.
Also quasi "kirchliche Start-Ups"?
Wolf: Im Prinzip Ja. Es gab vor einigen Jahren das landeskirchliche Projekt "f.i.t", bei dem Initiativen im diakonischen Bereich drei Jahre lang mit insgesamt drei Millionen Euro gefördert wurden. Dabei sind tolle Projekte entstanden. MUT ist sozusagen eine Neuauflage, mit diesmal missionarischem Schwerpunkt – gut verbunden mit den Grundhaltungen aus dem Prozess Profil und Konzentration.
Wie komme ich als Gemeinde in den Genuss der Förderung?
Wolf: Wir wollen den Zugang möglichst niederschwellig halten, damit nicht nur die gewinnen, die einen möglichst guten Antrag formulieren können, sondern wirklich die Pioniertypen zum Zuge kommen. Das "U" in MUT steht für "unkonventionell", man kann es aber auch im Sinne von "unvollkommen" oder "unfertig" verstehen. Es dürfen auch gerne unausgegorene Ideen als erste Interessensbekundung per kurzer E-Mail eingereicht werden. Unser Team schaut sich das dann an, entscheidet nicht, ob die Idee gut oder schlecht ist, sondern hilft den Leuten, ihren Weg weiter zu gehen, stellt Fragen, vertieft die Ansätze und berät. Es kann auch sein, dass eine Gemeinde gerne etwas Mutiges anstellen würde, aber keine genaue Idee hat, was das sein könnte. In dem Fall würden wir auch beraten und gemeinsam mit den Leuten herausfinden, was vielleicht in diesem Kontext sinnvoll ist. Es gibt übrigens auch schon Initiativen, die sich bei uns melden und sagen: Wir brauchen zwar kein Geld, aber wir würden gerne offiziell eine MUT Initiative sein und Teil der Bewegung sein.
Was ist, wenn ich zwar eine Idee oder Anliegen habe, aber gleichsam das Gefühl, das mein Vorhaben nicht unkonventionell genug ist?
Wolf: Hier muss man unterscheiden: Was in München-City vielleicht schon wieder zu alltäglich ist, wäre an anderen Orten in Bayern möglicherweise völlig unkonventionell oder auch umgekehrt. Unkonventionell bezieht sich auf die Region und das kann sehr vielfältig sein. Wir haben in der Landeskirche ja auch noch andere Projektförderungen, zum Beispiel für PuK-Projekte, für Digitalisierung oder für Kasualien. Wenn wir merken, dass ein bei MUT eingereichter Vorschlag besser zu einem anderen Bereich passt, dann sprechen wir intern und versuchen gemeinsam gute Wege zu finden.
Können Sie ein Beispiel einer Bewerbung nennen?
Wolf: Wir haben bereits über 30 Anfragen aus ganz Bayern, der erste offizielle Pitch mit der MUT Jury ist aber erst Mitte April. Deswegen ist es jetzt schwierig, vor der Entscheidung der Jury einzelne Projekte herauszuheben. Aber ich kann gerne ein Beispiel einer Aktion nennen, die es schon gibt und die ganz im "spirit" von MUT ist: Das "Täubla" in Naila ist eine Kneipe, die von Kirchengemeinde, CVJM und anderen Playern gemeinsam eröffnet wurde, um einen christlichen Begegnungsort für junge Erwachsene zu schaffen. Möglich wäre bei so etwas durch MUT beispielsweise ein Mietkostenzuschuss oder die Förderung für eine größere Anschaffung, aber auch die Kostenübernahme für Personal, etwa einer Stelle auf 450-Euro-Basis.
Das "U" haben wir geklärt, das "T" steht für "Tandem" als Aufruf, sich auch gerne Partner außerhalb des gewohnten kirchlichen Umfelds zu suchen. Bleibt das "M", das "missional" bedeutet. Hieß das früher nicht "missionarisch"?
Wolf: Es ist der gleiche Wortstamm, aber es sind zwei unterschiedliche Wortarten und dadurch wird eine andere Haltung ausgedrückt. Manche denken beim Wort "missionarisch" an aktive und teilweise aufdringliche Bekehrungsversuche. "Missional" ist kein Adjektiv, sondern ein Adverb, das eine Grundhaltung beschreibt. Natürlich wollen wir weiter im Sinne der "Sendung" (missio) auf die Menschen zugehen. Aber wir verstehen uns so nicht als die Missionare, die die Antworten auf alle Fragen haben, sondern im Dialog mit den Menschen Antworten suchen. Dabei bringen wir unsere Erfahrungen mit dem christlichen Glauben ein.
Sie waren in den vergangenen Jahren häufig auf Musikfestivals mit einem Stand der Kirche vertreten. Welche Erfahrungen haben Sie mit der missionalen Haltung dort gemacht?
Wolf: Das waren tolle Erfahrungen. Es war ausdrücklich kein Stand, sondern wir waren ein Ort der Begegnung. Wir haben uns nicht auf eine Bierkiste gestellt und lauthals aus der Bibel vorgelesen. Wir waren einfach erst einmal nur da, wir sind mit den Leuten ins Gespräch gekommen, die einfach neugierig waren, was ein Pfarrer, was Kirche hier macht. Irgendwann kam dann oft die Frage: Glaubst du wirklich an das Zeug, was die Kirche so sagt?
Dann konnte man vom eigenen Glauben erzählen und die Leute haben hochinteressiert zugehört. Hätte ich vorher mit diesen Themen angefangen, hätten sie mich wahrscheinlich stehen lassen. Ich habe bei diesen Gesprächen auch selbst noch einmal viel über meinen Glauben und meine Zweifel gelernt. Aber insgesamt kann man sagen: Wir hatten sehr viele tiefe Glaubensgespräche auf den Festivals und haben viele Menschen sogar gesegnet – und das konnte passieren wegen dieser missionalen Grundhaltung.
Was machen wir, wenn die Menschen überhaupt kein Interesse daran haben, über den Glauben zu reden?
Wolf: Da müssen wir bei uns selbst beginnen. Ich bin in unserer Kirche beispielsweise auch für den Bereich Arbeit mit iranischen Geflüchteten zuständig. Da sind viele total neugierig und fragen in ihren Gemeinden, ob ihnen die Menschen etwas von ihrem Glauben erzählen. Leider zucken dann viele mit den Schultern und verweisen auf den Pfarrer. Wir sollten das mehr einüben, von unseren guten Erfahrungen mit Kirche, mit Glauben, mit Gottesdiensten zu erzählen.