Als die Metallsonde anschlug, hatten es die beiden Männer eilig. Es war die Nacht des 4. Juli 1999 auf dem 250 Meter hohen Mittelberg im Ziegelrodaer Forst, etwa vier Kilometer westlich der Stadt Nebra. Im Schein ihrer batteriebetriebenen Lampen schlugen sie mit einer Feuerwehrhacke und einem Maurerhammer mit kräftigen Hieben ins Erdreich. Sie räumten ein paar größere Steine aus dem Boden, dann traf die Hacke auf etwas Hartes, Metallisches. Der Deckel eines Eimers? Oder doch ein mittelalterlicher Waffenschild?

Als in der Steinkammer noch ein paar antiquierte Dolche zum Vorschein kamen, waren die beiden Raubgräber, Henry Westphal und Mario Renner, sicher, dass sie etwas sehr Altes gefunden hatten - und dass auch die etwa zwei Kilogramm schwere und 32 Zentimeter messende Scheibe aus älterer Zeit stammen muss.

Bereits am nächsten Tag verkauften sie ihren Fund für 31.000 Mark an einen einschlägigen Händler in Köln. Die Scheibe wechselte noch einige Male den Besitzer und stieg im Preis auf eine Million Mark, aber die Sache wurde dann offenbar zu heiß. 2001 zahlte ein Hehler-Paar 200.000 Euro für die Scheibe, doch dann bekam der sachsen-anhaltinische Landesarchäologe Harald Meller Wind von der Sache. Wie in einem Krimi gelang es ihm in Zusammenarbeit mit der Schweizer Polizei, die Scheibe zu beschlagnahmen. Seither fasziniert die "Himmelsscheibe von Nebra" Wissenschaftler der unterschiedlichsten Fachbereiche. Der Wert der Scheibe ist unschätzbar, ihr Versicherungswert lag 2006 bei 100 Millionen Euro. Und die Erforschung des seltsamen Artefakts ist noch lange nicht abgeschlossen.

Himmelsscheibe von Nebra als Zeugin des Wandels

Die Himmelsscheibe erzählt eine Geschichte vom Wandel der Zeit. Was prägte ihre Epoche? Die Menschen lebten vor allem von Ackerbau und Viehzucht. Aber: Das Zeitalter der Metalle war angebrochen. Kupfer und Zinn wurde zu Bronze verarbeitet. Die Scheibe weist einen geringen Zinnanteil von nur 2,5 Prozent auf, was den Rohling weicher und besser zum Verarbeiten machte. Das Kupfer für die Himmelsscheibe stammt aus Mitterberg am Hochkönig in den Ostalpen. In Barrenform wurde das Metall gegen Felle oder Bernstein aus dem Norden gehandelt. Die Fürsten in Mitteldeutschland im Herzen des Kontinents saßen an den Handelsrouten wie die Spinne im Netz und kontrollierten den Tausch und die Verteilung der Waren.

1.300 Arbeitsstunden - so haben die Archäologen berechnet - stecken wohl in der Fertigung der Scheibe, vom Abbau der Materialien bis zur letzten Fassung um das Jahr 1.600 vor Christus. Bis zu 70 Mal wurde der Gusskuchen, aus dem die Scheibe geschmiedet wurde, erhitzt und ausgetrieben. Die Goldeinlage wurde in einem neuen und komplizierten Verfahren in die Bronze eingelegt, dem Tauschieren. Eine Metalleinlegearbeit, bei der das weichere Gold in eine ausgestochene Nut in der härteren Bronze eingepasst und eingehhämmert wird. Die Tauschierung wurde bei der Himmelsscheibe jedoch nicht ganz perfekt ausgeführt. Der erste Stern, der gesetzt worden war, wurde am schlechtesten eingepasst. Woher kam das Wissen? Vor 3600 Jahren beherrschten nur die Kunstschmiede im fernen Mykene die Technik schon vollkommen. Ist es denkbar, dass die Scheibe von dort kommt?

Wahrscheinlicher ist, dass die Fertigungstechnik von dort importiert wurde, denn die Scheibe selbst ist eindeutig "Made in Sachsen-Anhalt". Mit dem Metallhandel verbreiteten sich auch neue Ideen und Wissen. Europa war ein zusammenhängender Kulturraum. Durch Kontrolle des Handels und die Kenntnisse der Metalltechnologie hoben sich nun die Fürsten vom Volk ab. Ursprünglich machte der Tod alle gleich, dies änderte sich aber um das Jahr 1950 vor Christus. Vorher gab es einfache Erdgräber mit nur wenigen einfachen kleinen Beigaben. Die "neuen" Fürstengrabhügel hatten nun einen Durchmesser von 30 Metern. Der Reichtum und die Macht zeigten sich in den metallenen Grabbeigaben, Symbole ihrer Herrschaft.

Jede Neuerung veränderte die Funktion der Himmelsscheibe

Auch die Himmelsscheibe gab Macht. Zeit ist Macht. Wer einen Kalender hat, hat Macht über die Zeit. Die Himmelsscheibe war vermutlich nur einem kleinen etablierten Kreis von Personen zugänglich und wurde als ein Gegenstand der Macht gehütet. Die Fürsten wollten nicht nur die Herrscher im Diesseits sein. Sie wollten auch wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Zeigt die Himmelsscheibe eine solche Ordnung?

Sicher ist, die Himmelsscheibe kann wie eine Sternkarte benutzt werden, die über dem Kopf gehalten das Geschehen am Himmel widerspiegelt. Der Blick zu den Sternen verbindet uns mit den Menschen der Bronzezeit, die wie wir ergriffen und fragend zum Himmel schauten, getrieben vom Wunsch, das Universum zu verstehen. Über Jahrtausende sehnte sich der Mensch nach Antworten, in der Scheibe hat er Ergebnisse seiner Suche festgehalten.

Die Himmelsscheibe war über Generationen in Gebrauch. Die Archäologen können drei Phasen der Nutzung herauslesen. Das Spannende: Mit jeder Änderung verschob sich die Funktion der Scheibe. Zuerst war die bronzene Scheibe mit kleinen Goldpunkten, der Sichel und dem Kreis ausgestattet: Vollmond, Mondsichel sowie 32 Sterne. Keine Götter, keine mythologischen Wesen bevölkerten den geschmiedeten Himmel, sondern 25 Sterne und ein Sternbild aus sieben Sternen, die Plejaden. Der Sternhaufen liegt rund 380 Lichtjahre von der Erde entfernt im Sternbild Stier. Sie dienten in vielen Kulturen zur Strukturierung des bäuerlichen Jahres. Nur: Die Himmelsscheibe zeigt die erste bildliche Darstellung des Himmels überhaupt.

Im Herbst steht der Vollmond bei den Plejaden, sie bleiben mit ihm am Himmel: Erntezeit, Ende des bäuerlichen Jahres. Im März begegnen sich der Mond - diesmal die schmale Sichel - und das Siebengestirn nur in der Abenddämmerung. Dann verschwinden die Plejaden. Das markiert den Beginn des Frühjahrs, auf der Scheibe rechts. "Das war wichtig, um den Zeitpunkt der Aussaat zu bestimmen", sagt Archäologe Alfred Reichenberger, Pressesprecher des Landesmuseums für Vorgeschichte in Sachsen-Anhalt. Für Ackerbauern ist das Sonnenjahr wesentlich. Doch das Mondjahr ist elf Tage kürzer als das Sonnenjahr. Aus Keilschrifttafeln des Alten Orients ist eine Schaltregel überliefert: Wer die Vorteile von Sonnen- und Mondkalender verknüpfen will, muss alle drei Jahre einen Monat einschalten.

Diente die Himmelsscheibe als Memogramm?

Die Himmelsscheibe könnte so etwas wie eine Erinnerungshilfe, die Wissenschaftler sagen "Memogramm", gewesen sein: Immer wenn der Frühlingsbeginn durch eine Begegnung der schmalen Mondsichel mit den Plejaden angezeigt wird, beginnt die Zählung. Nach drei Jahren ist die Mondsichel bei der Begegnung mit den Plejaden deutlich dicker. Genau so wie auf der Himmelsscheibe angezeigt. In einer schriftlosen Zeit erinnerte die Himmelsscheibe an die Regel und das Einfügen des Schaltmonats. "Man beobachtete, wann der Mond so dick ist wie auf der Scheibe. Man brauchte nicht kompliziert rechnen können, man muss gucken können und zählen. Die Erschaffer der Himmelsscheibe sind die Astronomen der Zeit", sagt Reichenberger.

Dann aber wurde die Bedeutung der Scheibe verändert: Jemand brachte am linken und rechten Rand zwei goldene Bögen an. Dafür wurden zwei Sterne verdeckt. Nun steht der Sonnenlauf, nicht mehr die Mondzyklen im Mittelpunkt. Die Daten, die nun eine Rolle spielen, sind die Wintersonnwende, der 21. Dezember, und die Sommersonnwende, der 21. Juni. Die beiden Bögen entsprechen in ihren Winkeln genau der Spanne des Sonnenaufgangs - und das funktioniert bei den angebrachten Winkeln ausschließlich in Mitteldeutschland - eben in der Gegend um Nebra. Die Winkel markieren den Endpunkt der Sonnenbögen von Wintersonnwende und Sommersonnwende. Mittels einer Peilung über den 80 Kilometer entfernten Brocken oder den Kulpenberg des Kyffhäuser konnte der vorzeitliche Astronom den für Ackerbauern wichtigen Zeitpunkt der Winter- oder Sonnensonnwende bestimmen. Bemerkenswert ist, dass die Geometrie der bildlichen Darstellungen auf der Scheibe mit dem Fundplatz zusammenhängt.

Schon etwa um 5000 vor Christus spielen der Lauf der Sonne und seine Beobachtung eine große Rolle für die bäuerliche Bevölkerung der Jungsteinzeit. Nur wenige Kilometer von Nebra entfernt lag die größte jungsteinzeitliche Kreisanlage, die zur Beobachtung des Jahreslaufes diente: "Woodhenge" wurde die nun rekonstruierte Anlage in Anlehnung an das englische Stonehenge schon genannt.

Die Sensation: Die Winkel in der Sonnenanlage von Goseck entsprechen denen der Horizontbögen der Himmelsscheibe. Ein Indiz dafür, dass in der Himmelsscheibe uraltes überliefertes Wissen abgebildet wurde? Die Verbindung von Sakralort, herausragendem Berg und Sonnenwende ist für das prähistorische Europa nicht ungewöhnlich. Parallelen dazu finden sich in Britannien und Griechenland. Doch nur am Kultort bei Nebra fand sich bisher mit der Himmelsscheibe ein zugehöriges "Benutzerhandbuch". Dagegen spricht, dass das Sonnenobservatorium Goseck 3000 Jahre vor Erschaffung der Himmelsscheibe nicht mehr existierte.

Wiederum änderte sich die Darstellung auf der Scheibe. Zum ersten Mal tauchte ein mythologisches Symbol auf der Himmelsscheibe auf: Mit der Darstellung eines Schiffes am unteren Rand kommt die Vorstellung der Himmelsbarke ins Spiel, auf der die Sonne täglich ihre Reise übers Firmament antritt. Gab es auch in Nebra einen Mythos, in dem die Sonne über den Horizont auf einem Schiff zieht?

Woher hatten die Menschen dieses Wissen?

Woher hatten die Menschen damals das Wissen, in welchem Kontext standen sie mit den Menschen des Vorderen Orients? Die Vorstellung des Himmels als Kuppel, ein Weltbild, das 1000 Jahre später im Alten Orient auftaucht. Genauso ist die Schaltregel, die nun in der Himmelsscheibe vermutet wird, aus dem alten Babylon im 7. Jahrhundert vor Christus belegt.

Der Wandel der Himmelsscheibe geht einher mit dem religiösen Wandel. Die Himmelsscheibe wurde vor 3600 Jahren sorgfältig mit wertvollen Beigaben deponiert - man könnte sagen bestattet. Sie stand mit der Barke nach unten senkrecht in der Erde. Die jüngsten Beigaben waren 1600 Jahre alt, Schwerter, Beile, Armspiralen. Das Wichtigste und Kostbarste, was man hatte, hat man der Erde übergeben, den Göttern als Gabe. Diese Sitte bricht in dieser Zeit ab. Die Himmelsscheibe und ihre Beigaben waren eines der letzten Depots. Eine neue Religion brach an. Es änderte sich die Gesellschaft, und neue Sitten kamen in Gebrauch. Wurde die Himmelsscheibe den Göttern als Gabe gebracht, um sie gnädig zu stimmen, um das Ende einer Ära abzuwenden?