Herr Roser, was verstehen Sie unter Spiritualität?
Traugott Roser: Da unterscheide ich zwischen meiner Form von Spiritualität und der der Menschen, denen ich als Seelsorger begegne. Ich bin durch die Art geprägt, wie meine Eltern mir Glauben vorlebten. Auch das Leben hat mir manches zu lernen gegeben. Spiritualität ist für mich etwas, was viel mit Biografie und Erfahrung, mit bestimmten Ausdrucksformen und Nachdenken zu tun hat. In meiner Spiritualität bin ich durch das Christentum geprägt, evangelisch in einer Landeskirche, die viele Frömmigkeitsformen kennt. In der Begegnung mit anderen Menschen in der Seelsorge geht Spiritualität viel weiter. Sie kann "Frömmigkeit" und "Glauben" meinen, aber auch ganz anders aussehen, kann aus einem ausgeprägten moralischen Verhalten oder einer Orientierung an Werten bestehen. Sie kann geprägt sein durch Meditation, das Rezitieren bestimmter Gebete, durch berührende Erlebnisse - Gipfelerlebnisse zum Beispiel oder beim Wandern in der Natur - oder durch Menschen, die einem so wichtig sind, dass sie einem heilig werden. Bei jedem ist das anders ausgeprägt. Aber ich kenne niemanden, der nicht spirituell wäre. Deshalb gehe ich auf andere zu mit einer offenen Definition: "Seine/ihre Spiritualität ist, was der/die andere dafür hält."
Dossier
In unserem Dossier zum Thema "Spiritualität" finden Sie Artikel rund um die christliche Frömmigkeitspraxis. Dazu gehören Mystik, Pilgern und Meditation, spirituelle Impulse und neue Formen der Gottesbegegnung. Hier geht es zum Dossier.
Was will "Spiritual Care"?
Roser: "Spiritual Care" ist eine "sorgende Haltung". Es ist die gemeinsame Sorge eines Menschen in einer lebensbedrohlichen Situation und derjenigen, die ihn begleiten - um die Teilhabe an einem als sinnvoll erfahrenen Leben, in einem ganz umfassenden Sinn. "Sorge" ist mir dabei wichtig, weil der Mensch, dem "Spiritual Care" gilt, Grund zur Sorge hat. Sein Leben ist bedroht, er hat Halt oder Gewissheit verloren, es geht um seine Existenz. Aber Sorge ist auch etwas Aktives, Aktivierendes. Wir können durch Vorsorge und Fürsorge, durch Versorgung und Umsorgen auf die Bedrohung reagieren, dem anderen beistehen. Damit halten wir ihn, ermöglichen ihm, weiter aktiv am Leben teilnehmen zu können. "Spiritual Care" fragt zum Beispiel, was ein Sterbender für seine Hinterbliebenen hinterlassen kann, einen Segen etwa. Aber er kann auch teilnehmen an einem Leben, das größer ist als das eigene. Da ist Kirche wichtig. Wir vertrauen auf die Verheißung der Auferstehung. Spiritual Care ist also - christlich gesprochen - die Teilhabe am Leben, die uns der Geist, "spiritus", schenkt. Das tut Gott meist durch andere Menschen.
VERLAGSANGEBOT
Was ist eigentlich christliche Spiritualität, wie lebt man sie im Alltag und wie sah Luthers spirituelle Verbindung zu Gott aus?
Hierüber und über weitere spannende Aspekte von Spiritualität lesen Sie in unseren THEMA-Magazinen "Spiritualität leben" und "Spiritualität entdecken".
Wie profitiert ein Patient, wenn seine Betreuung nicht getrennt wird in körperliche Behandlung durch einen Arzt und geistliche durch einen Seelsorger?
Roser: Viel! Wenn eine Krankenschwester oder ein Physiotherapeut einen Menschen nicht nur nach den Regeln ihrer Kunst behandelt, sondern auch fragt, was eine Krankheit für ihn bedeutet, und sich darum kümmert, welche Ressourcen und welche Kraft er zur Verfügung hat, um Schweres auszuhalten, dann fühlt sich der Kranke als "ganzer Mensch" ernst genommen. Dann wird er ermutigt, nicht nur geduldiger Patient zu sein, an dem medizinische Behandlung vorgenommen wird, sondern sich aktiv mit seiner Situation zu befassen. Umgekehrt, wenn Seelsorge sich auf geistliche Themen reduzieren würde, übersähe sie, was einen Kranken am meisten drückt. Dann würde sie nicht ernst nehmen, dass die Sorge um die finanzielle Sicherung der Familie allen Schlaf rauben kann, dass die Angst um den Arbeitsplatz die Existenz bedroht. Oder dass manche durch Verdauungsprobleme im wahrsten Sinn so blockiert sind, dass sie nicht in der Lage sind, ein Vaterunser zu sprechen. Alle müssen zusammenarbeiten, aber jeder muss wissen, was sein Zuständigkeitsbereich ist.