Klimakrise, Corona und der Krieg in der Ukraine - Aktuell jagt eine Krise die nächste. Beim Sonntagsblatt-Redaktionsgespräch sprechen wir mit Anna-Nicole Heinrich, Präses der EKD darüber, wie Kirchen auf Unsicherheiten reagieren.

Was kann die Kirche dazu beitragen, dass Themen wie die Klimakrise oder Afghanistan nicht vergessen werden?

Anna-Nicole Heinrich: Ich glaube, dass mit jeder neuen Krise, die dazu kommt, unsere Welt ein Stück komplexer wird, die Unsicherheiten auch ein Stück größer werden und das die Leute einfach immer mehr beschäftigt. Es ist unsere Aufgabe als Kirche, unsere Aufgabe als Christinnen, den Leuten in den Situationen Halt zu geben und dann eben immer wieder danach zu fragen: Was sind eigentlich diese ganzen Faktoren, die in deiner Unsicherheit zusammenkommen? Das ist dann eben nicht immer nur das tagesaktuelle Geschehen, sondern da treiben uns natürlich auch andere Unsicherheitsfaktoren an. Und dann zu schauen: Wie können wir gemeinsam mit dieser Unsicherheit umgehen? In allen Themenfeldern, in allen Krisen, die uns im Moment beschäftigen.

Was sollte die Kirche beim Thema Klimawandel tun?

Das Thema Klima ist ja auch gerade eines, was uns auf allen Ebenen unserer Kirche beschäftigt, von der Gemeinde bis zur EKD. Dass wir Strukturen und auch auf unserer Ebene der EKD ein Rahmengesetz brauchen, was einen Handlungsspielraum gibt. Denn wir können uns in diese ganze Thematik nur einbringen, wenn wir uns auch als Institution irgendwie ehrlich machen. Eigentlich müssen wir eine neue Rolle finden in dem, wie wir diese Gesamtbewegung unterstützen, dieses Streben nach Klimaschutz, dieses Streben nach weltweiter Klimagerechtigkeit. Und da freue ich mich darauf, in den nächsten Jahren auch gemeinsam in der EKD, gemeinsam mit den Gliedkirchen, gemeinsam mit ganz vielen Christ*innen nachzudenken, was die Rolle von Kirche sein kann und wo Kirche Ermöglicherin sein kann dafür, dass wir diesen Weg gut miteinander beschreiten.

Gemeinden haben immer öfter mit Einsparungen zu kämpfen, sei es beim Personal, bei den Räumlichkeiten oder schlicht und einfach beim Geld. Welche Botschaft würden Sie ihnen mitgeben?

Ich würde gerne allen mitgeben, dass das Veränderungen sind, vor denen wir keine Angst haben müssen. Wir sind eine Kirche, eine Gemeinschaft, die sich schon immer wandelt, die sich schon immer anpasst und mit unserer Gesellschaft weiterentwickelt.

Und wichtig ist, dass wir einfach Lust haben auf diese Veränderung. Und wirklich mit einer unverzagten Haltung da reingehen, nicht zu sehr klammern und festhalten an den Sachen, die nicht mehr sind, sondern eher unseren Fokus darauf richten, was wir alles Neues, anders machen können. Und daran unseren Spaß haben und den Blick nach vorne richten und nicht so oft zurück.

 

Das Interview wurde beim Redaktionsgespräch am 12. Mai 2022 im Evangelischen Presseverband für Bayern aufgezeichnet. Bei dem Gesprächsformat sprechen die Chefredakteurinnen und Chefredakteure mit prominenten Persönlichkeiten aus Kirche, Politik und Gesellschaft. Unser Dossier "Promis und Glaube" findet sich unter diesem Link.

Anna-Nicole Heinrich ist Präses der EKD
Anna-Nicole Heinrich ist Präses der EKD
Redaktionsgespräch im EPV
Redaktionsgespräch im EPV
Anna-Nicole Heinrich ist Präses der EKD
Anna-Nicole Heinrich ist Präses der EKD

Das gesamte Redaktionsgespräch mit Anna-Nicole Heinrich

Vor einem Jahr sind Sie gewählt worden als EKD Präses. Wie lange hat es gedauert, bis Sie Ihrer Familie und ihrem Freundeskreis erläutern konnten, was eine EKD Präses ist?

Heinrich: Ich habe einfach schnell Vergleiche bemüht, da wäre etwa die Konstruktion der Europäischen Union mit ihrem Parlament ganz passend. Oder man sagt halt, es sei so eine Art "Bundestag der evangelischen Kirche". Die Bundestagspräsidentin, die vorne in der Mitte sitzt und moderiert, das wäre dann ich für die Kirche. Mein Problem war ein anderes, das war ja alles relativ spontan. Zwei Tage vor der Wahl wurde ich angesprochen und hab mich dann zur Wahl gestellt. Meine Eltern haben es erfahren, weil eine Verwandte angerufen und gesagt hat: " Anna war in der Tagesschau." Somit war weniger die Frage "Was machst du da jetzt?", sondern "Warum wussten wir das nicht?".

 Als Jugendliche waren Sie im Fußballverein und beim Rettungsdienst. Woher kam dann die Lust an kirchlicher Gremienarbeit?

Heinrich: Fußball war nur so eine Phase. Ich weiß auch nicht. Für den Sport an sich hat nie so richtig mein Herz gebrannt. Fußball war eher so ein Gemeinschaftsding, weil es cool war, jedes Wochenende mit den Leuten unterwegs zu sein. Bei der Wasserwacht bin ich länger hängen geblieben, dann beim Rettungsdienst. Ich wollte etwas für andere machen, das ist wohl schon ähnlich gewesen wie beim späteren kirchlichen Engagement. Da kam dann aber auch irgendwann noch die geistliche Dimension hinzu. Ich habe eigentlich immer drauf geschaut, was eigentlich meine Kompetenzen sind. Weil ich nicht lange schnell laufen kann, habe ich mich ins Tor gestellt. Und weil ich kein Problem damit habe, nachts zu arbeiten, bin ich beim Rettungsdienst gerne nachts im Einsatz gewesen. In meinem schulischen Engagement habe ich dann gelernt, dass man ein Gespür dafür entwickeln kann, wie Sachen artikuliert werden müssen, mit wem man sprechen muss, welches Netzwerk hilft, um Sachen voranzutreiben. Das hilft auch bei der kirchlichen Gremienarbeit ungemein.

 Sie kommen aus einem nichtkirchlichen Elternhaus. Wie sind Sie zur Kirche gekommen?

Heinrich: Durch den Religionsunterricht. Bei der Einschulung im Bayerischen Wald hatte ich die Wahl zwischen katholischem und evangelischem Unterricht, denn 2 Stunden pro Woche einfach in der Schule rumhängen nur weil ich nicht getauft bin, war keine Option. Ich entschied mich für evangelischen Unterricht, nachdem ich mir beides anschauen durfte. Da wir wenige waren fand es in einer Kombiklasse mit Älteren zusammen im Raum der Mittagsbetreuung statt. Dann bin ich da einfach reingewachsen: Die kleine Gruppe der Evangelischen wurden meine Freunde, es kamen Kindergruppe und Jugendfreizeiten und schließlich ließ ich mich taufen.

 Sie studieren Philosophie. Welchen Beruf haben Ihre Eltern?

Heinrich: Meine Mutter ist technische Zeichnerin und mein Vater LKW-Fahrer. Ich komme aus einem nichtkirchlichen Elternhaus, meine Familie kommt aus Thüringen, schon meine Großeltern waren nicht mehr in der Kirche.

 Sollte man nicht öfter thematisieren, wie man zum Glauben oder zur Kirche kommt?

Heinrich: Es ist schön, wenn Leute für sich Momente oder Phasen ausmachen können, in denen es ein Mehr gab oder wo sie gesagt haben, da hat sich meine Bindung zur Kirche, zum Glauben gestärkt. Und wenn sie persönlich erzählen, warum ihnen der Glaube Halt gibt, warum sie an dieser Kirche hängen oder warum sie so auf ihre Hochschulgemeinde stehen. Da können wir echt viel tun: wir können Menschen ermutigen, darüber zu sprechen, warum sie Christ*innen sind. Das tun wir alle viel zu wenig. Auch Menschen, die in der Kirche angestellt sind, erzählen meiner Wahrnehmung nach eher selten darüber, was sie wirklich bewegt hat, diesen Arbeitgeber zu wählen, bei dieser Kirche, in diesen Strukturen zu sein. Ich habe das Gefühl, unsere persönliche Motivation verschwindet manchmal hinter all unserer Struktur.

Wie müsste ein Gottesdienst aussehen, in dem Sie sich wohlfühlen?

Heinrich: Ich fühle mich in sehr unterschiedlichen Gottesdiensten sehr wohl. Aber erstens sollte der handwerklich einfach gut gemacht sein. Das zweite: Ich will alles verstehen, was da passiert. Das ist nicht immer so, gerade jetzt, wo ich so in vielen unterschiedlichen Landeskirchen unterwegs bin. Hier in Bayern bin ich gewohnt aufstehen, hinsetzen, singen, antworten, singen. Und dann komme ich in eine reformierte Kirche und warte vergebens auf ein Signal, aufzustehen. Eine Kleinigkeit, aber auch letztlich ein Unsicherheitsfaktor, denn ich konzentriere mich nicht auf das Wesentliche, auf die eigentliche Botschaft. Und natürlich muss es in dem Gottesdienst gelinge, dass er mir ein Gefühl vermittelt, mich nicht nur über den Verstand anspricht. Es geht immer auch um die emotionale Ebene, die in einem Gottesdienst erlebbar werden sollte.

In der evangelischen Kirche gibt es ja unterschiedliche Frömmigkeitsstile. Wie erleben Sie das?

Heinrich: Ich habe da keine Scheu. Da gibt es einfach extrem viel, was in unterschiedlicher Weise bereichernd sein kann. Wenn Leute unterschiedlicher Frömmigkeit zusammenkommen, ist mir das Gespräch wichtig - nicht über theologische oder dogmatische Richtigkeiten, sondern über unsere persönlichen Haltungen. Ich sage dann, lasst uns gucken, wo sind unsere Gemeinsamkeiten, wo sind da verbindende Elemente? Wo sind aber auch Grenzen, die wir benennen müssen? Ich begegne hin und wieder auch Christ*innen, die aus einer fundamentalistischen Sicht krude Sachen ableiteten. Da gibt es für mich eindeutig Grenzen, aber auch dann weiter im Gespräch zu bleiben ist mir wichtig.

Wo sind die Grenzen?

Heinrich: Also etwa das Thema Umgang mit queeren Menschen kann da im Austausch ein Thema sein, wo die Grenze zwischen Position und Diskriminierung überschritten wird.  Dann sage ich auch ganz klar: "Bis hierhin und nicht weiter." Reibungspunkte gab es zuletzt aber auch immer mal beim Thema Familie, familiäre Gemeinschaft, Lebensgestaltung, wo ich ein sehr liberales und offenes Bild habe. Ich wohne mit meinem Mann in einer Wohngemeinschaft, und wir sagen, das ist auch unsere Familie. Wir sind füreinander da, kochen zusammen und unternehmen etwas zusammen. Man bietet dem jeweils anderen immer an zu partizipieren, auch wenn man ihn oder sie vielleicht gerade mal nicht so gut leiden kann. Ebenso, wie man es in der Familie halt auch machen würde: Man hält sich mit allen Ecken und Kanten aus. Für mich ist es wichtig, dass wir nicht nur das klassische Familienbild, sondern auch andere Lebensrealitäten in den Blick nehmen, Gemeinschaften, die gegenseitig Verantwortung übernehmen und deshalb genauso unterstützend, schützenswert und sehenswert sind wie eine Familie aus Mutter, Vater und zwei Kindern.

Können Sie über Ihr erstes Jahr als Präses Bilanz ziehen?

Heinrich: Mir ist bewusst geworden, dass wir an vielen Stellen als Kirche ganz neu eine Rolle finden müssen. In der Klimadebatte etwa - könnte man überspitzt sagen - haben uns andere den Rang abgelaufen. Ich finde das aber gar nicht schlimm, wenn dort die Fridays for Future Bewegung jetzt sichtbarerer ist als wir. Die Kirche war Vorreiter und ist in ihrer neuen Rolle jetzt vielleicht mehr Ermöglicherin. Das ist ein Schritt aus dem Rampenlicht in die zweite Reihe, das schadet hier aber überhaupt nicht. Wir müssen künftig einfach viel stärker in Netzwerken denken.  So erlebe ich es auch in meinem Ehrenamt als Präses. Da bekomme ich einfach eine super Unterstützung, sowohl von den Hauptamtlichen als auch von der Synode. So ein ganzes Parlament hinter sich als Netzwerk zu wissen habe ich sehr zu schätzen gelernt.

Sind Sie nie auch mal genervt von der Gremienarbeit?

Heinrich: Manchmal bin ich über mich selbst erschrocken, wie schnell ich bei redundanten Prozessen ungeduldig werde. Gerade weil ich als Präses ja überall dabei bin, bekomme ich manche Sachen dann sieben Mal hintereinander mit. Ich frage mich dann bisweilen, wie viele Runden müssen wir da noch drehen, bis dann die Sache letztlich auf den Weg gebracht wird. Wir sollten den Mut haben, in der Praxis einfach mal etwas auszuprobieren. Und wenn es scheitert, einen neuen Versuch starten. Es ist natürlich auch richtig und wichtig, im Vorwege eine breite Beteiligung zu ermöglichen, aber ein bisschen Pragmatismus müssen wir uns in Zukunft schon an den Tag legen.

Wie viel Zeit verbringen Sie mit dieser Aufgabe?

Heinrich: Ich habe ja eine halbe Stelle an der Uni, also ich muss 20 Stunden in der Woche neben meinem Studium normal arbeiten. Ich habe den großen Vorteil, dass ich das von überall aus machen kann. Bleiben also je nach Studienphase round about 20 bis 30 Stunden für das Ehrenamt als Präses.

Was machen Sie gerne in Ihrer Freizeit? Wie können sie gut abschalten?

Heinrich: Ich gehe total gern bouldern, aber im Moment nicht mehr ganz so oft. Dann hänge ich extrem gern einfach mit meinen Freund*innen rum. Die haben nach so zwei drei Monaten dann auch ganz klar artikuliert: So, jetzt war es in Ordnung, dass du mal zwei, drei Monate gar nicht mehr abends da warst, aber jetzt musst du mal wieder kommen! Und ich spiele extrem gerne Playstation. Das kommt mir entgegen, weil man da immer ein Ziel hat, da muss man irgendwie die Mission abschließen und dann ist es zu Ende. Dann kann ich sagen "Ich habe Gotham City gerettet." Diese abgeschlossenen Erfolgserlebnisse hat man ja sonst wirklich ganz selten.

Ihr Lieblingsthema ist digitale Transformation. Was meinen Sie damit?

Heinrich: Transformation ist so ein großes Wort, mit dessen Verwendung wir als Kirche noch vorsichtig sein sollten. Wir sind in der Kirche immer noch in dem Modus, wo wir erst kleine Stellschrauben verändern und es dann aber schon Transformation nennen. Wirkliche Transformation würde mit einem völligen Systemwechsel einhergehen. Wenn wir digitale Transformation in Zukunft ernst nehmen, auch organisatorisch, dann werden wir wirklich mal von einer ganz anderen Seite her denken müssen. Man könnte zum Beispiel darüber nachdenken, was passiert, wenn wir uns nicht mehr als eine physische Organisation mit "digital expressions" verstehen würden, sondern als eine digitale Organisation mit "physical locations". Da sind wir aber noch am Anfang. Wir beginnen erst langsam, solche Fragen zu stellen, die aber immer wichtiger werden, wenn wir uns wirklich auf die veränderten Lebensrealitäten einlassen wollen. Die Fokussierung auf das Physische stimmt nicht mehr mit der Lebensrealität vieler Menschen überein, die täglich zwölf Stunden Bildschirmzeit haben. Denn fast alles was ich tue, startet ja mittlerweile in meinem Handy.

Sie haben nun angeregt, man solle in sozialen Medien Beziehungen aufbauen. Wie soll das gehen?

Heinrich: Das tun wir ja alle längst, aber das lässt sich sicher noch stark ausbauen. Der digitale Raum ist voll mit Menschen, die sich nicht kennen und die sich begegnen, auch Beziehungen aufbauen wollen. Ich glaube wir können in diesem Raum mit vergleichsweise geringem Aufwand viele Menschen erreichen und eine erste Form von Bindung erzeugen. Das ist dann oft eine erste Form von Bindung und Beziehung, die dann im Idealfall auch dauerhafte Bindungen, seien es digitale oder auch analoge zur Folge hat. Es ist doch viel schöner, zu einem Gottesdienst oder zu einem Angebot zu gehen mit dem Gefühl, dass da schon so ein erster Faden an Beziehung da ist. Dieses Mehr an Beziehung macht es einfach aus.

Kann man Gott im Internet begegnen?

Heinrich: Man kann Gott überall begegnen.

Gibt es für Sie Organisationen, bei denen die Verknüpfung von Digital und Präsenz schon besser funktioniert? Von wem kann da die Kirche lernen?

Heinrich: Wir sind ja eine relativ große Institution und ein kompletter Switch wäre auf der sprichwörtlichen "grünen Wiese" natürlich viel einfacher. Spannend finde ich, wie die ARD momentan ihr Mediathek-Angebot bewirbt mit dem Spruch "Fernsehen guck ich nicht". Sie leiten die Aufmerksamkeit um vom linearen Fernsehen von BR, HR oder SWR etc. und bündeln das ganze Angebot auf einer digitalen Plattform. Damit unterstreichen sie: wenn wir in diesem digitalen Raum sichtbar sein wollen und in dem Markt mitspielen wollen, müssen wir unsere Aktivitäten neu ordnen. Die ARD Mediathek ist die am häufigsten genutzte Mediathek von deutschen Fernsehsendern. Mittlerweile kann die ARD Mediathek auch mit sehr bekannten Streamingdiensten mithalten. Damit behaupten sie sich auf dem Markt und erreichen zugleich einen Imagewandel.

Wie kann man aus Ihrer Sicht die Gemeinden dazu befähigen, sich gegenseitig in ihren Kernkompetenzen oder was jede einzelne Person kann noch zu verstärken?

Heinrich: Wir leben in einer beschleunigten Welt, wo auch in den Gemeinden immer schneller neue Leute mit neuen Kompetenzen dazukommen. Aufgabe der Hauptamtlichen wird es immer wieder sein, diese Kompetenzen in den Blick zu nehmen und das Netzwerk an Personen optimal zum Tragen kommen zu lassen. In meiner Gemeinde, in der ich aufgewachsen bin, hat das richtig gut funktioniert. Das war etwas, was uns alle getragen hat - unterschiedliche Generationen und Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen. Daneben ist Wirksamkeit wichtig. Wenn die Leute nicht das Gefühl haben, in irgendeiner Weise etwas zu bewirken, dann verlieren sie auch die Lust.

Wie gehen Sie mit negativen Reaktionen um?

Heinrich: Wenn ich eine Aussage zu einem kontroversen Thema mache, dann läuft schon mal schlagartig das Postfach voll. Ich lese die Mails dann nicht alle selbst, aber keine bleibt unbeantwortet. Dass da ein Team dahintersteht, ermöglicht mir eine Unbeschwertheit, die ich behalten möchte. Ich lese zum Beispiel selbst auch keine Facebook Kommentare, sondern lasse mir das gefiltert und versachlicht zusammenfassen. So kann ich meinen Anspruch behalten, einerseits Reaktionen ernst zu nehmen, andererseits aber auch nicht eingeschüchtert und damit übervorsichtig durch die Welt zu tippeln. Ich will ja schließlich auch Resonanz erzeugen. Mit weichgespülten Sachen geht das nicht.

Zugespitzte Antworten werden auch in der aktuellen friedensethischen Debatte verlangt. Fällt Ihnen das schwer?

Heinrich: Das Thema ist ja nicht neu. Ich war bereits 2019 Jugenddelegierte der EKD-Synode. Bei der Friedens-Synode haben wir uns mit der EKD-Denkschrift 2007 auseinandergesetzt und die Position weiterentwickelt. Eine Friedensethik ist ja nie abgeschlossen, sondern immer auf dem Weg. Das war für mich eine gute Grundlage, auf der ich mir dann auch eine Position in der nunmehr veränderten Situation bilden konnte. Der Weg zu einer gut begründeten Position beginnt für mich bei der Utopie, dass wir in einer friedlichen Welt leben wollen, dann aber natürlich auch in der Realisierung, dass wir das nicht tun.

In der EKD gibt es momentan unterschiedliche Positionen. Der EKD-Friedensbeauftragte ist gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, Sie und die Ratsvorsitzende sind dafür. Ist das protestantische Vielfalt oder ein Problem?

Heinrich: Beide Positionen sind eindeutig aus einer gemeinsamen Haltung und dem Wunsch nach einem gerechten Frieden herleitbar. Gemeinsam erkennen wir das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine an. Erst dann biegen wir an der Gabelung unterschiedlich ab. Wenn ich sage, wenn wir den Ukrainer*innen das Selbstverteidigungsrecht zugestehen, dann müssen wir aus meiner Sicht auch hören, was sie dafür brauchen, es auszuüben. Deshalb halte ich auch Waffenlieferungen für vertretbar. Aber es steht nicht in meinem Horizont, dann zu beurteilen, welche Waffen das sind, ich weise eher noch einmal darauf hin, Waffen werden immer Menschen töten. Aber genauso kann man auf der anderen Seite abbiegen und sagen, wir können dieses Recht zugestehen und uns trotzdem als Partei sehen, die nicht direkt darauf Einfluss nehmen kann oder soll. Wenn wir sehr klar beschreiben, wo wir gemeinsam herkommen und dann ganz klar machen, an welcher Stelle wir aus gut begründeten gemeinsamen Grundaussagen unterschiedliche Schlüsse ziehen, dann kann man das wirklich gut nebeneinander aushalten und miteinander im Gespräch bleiben. Es gibt in diesen Fragen nicht die eine "richtige" Position, sondern nur die Abwägung möglicher Wege in einer Dilemma-Situation. Absolute Aussagen führen uns deshalb nicht weiter. Aufgabe der Kirche in so einer Situation der Krise ist es, nicht fertige Antworten zu haben, sondern den Menschen Grundorientierungen zu geben auf deren Basis sie selbst zu ihrem eigenen Urteil kommen können.

Wer kann den russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill überzeugen, dass der Krieg nicht richtig ist? Ist die EKD im ökumenischen Gespräch?

Heinrich: Natürlich haben wir Kontakt zur russisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats Zu dieser Kirche gehören mehr Menschen als Kyrill. Das Moskauer Patriarchat ist nämlich nach wie vor auch die größte christliche Kirche in der Ukraine, und nicht nur in Russland. Der ukrainische Zweig des Moskauer Patriarchats macht nicht weniger als ein Drittel der russisch-orthodoxen Gesamtkirche weltweit aus. Dass Kyrill die ganze Sache, anders als viele anderen hochrangige Vertreter seiner Kirche, die den Krieg verdammen, befeuert hat, haben wir sehr klar verurteilt. Es kann aber nicht unser Ziel sein, diesen einen Mann zu bekehren - das schaffen ja nicht mal seine eigenen Priester, die ihm an vielen Stellen Paroli bieten -  sondern die anderen Stimmen neben Kyrill zu stärken. Das ist auch viel diplomatische Arbeit. In so einer Krise ist es umso wichtiger, die Beziehungen auf allen Ebenen zu intensivieren. Ich hoffe da auch auf die Tagung des Ökumenischen Rats der Kirchen in diesem Jahr.

Wird die Kirche in der ganzen Debatte genügend wahrgenommen?

Heinrich: Unser Ziel ist wie gesagt, Orientierung zu geben. Es darf nicht damit enden, dass wir eine theologische Grundsatzdebatte geführt haben und dann vielleicht die Friedens-Denkschrift weiterschreiben. Wichtiger sind Formate, Runden und Impulse, die wirklich zum Denken anregen. Da dürfen wir schon noch deutlich vielfältiger werden, als wir das ibis jetzt schon waren.

Pfingsten steht vor der Tür. Wie erklären Sie das Fest nichtkirchlichen Freunden?

Heinrich: Ich bin neulich zufällig bei der Lektüre der Apostelgeschichte darauf gestoßen, wie dort die Gemeinde kurz nach dem Pfingstgeschehen beschrieben wird. Die wirken so total gehypt und so würde ich das auch beschreiben. Die Kirche gründet sich als Gemeinschaft, weil der Heilige Geist gekommen ist und so in sie gefahren ist, dass alle ein Gefühl hatten: Wir gehören zusammen, hier ist was, was uns verbindet und darauf haben wir jetzt erst mal richtig Bock. Vielleicht ist das ein wenig so, wenn ihr euch nach drei Jahren Corona endlich mal wieder zu einer Betriebsfeier trefft und merkt, "krass, so viel Gemeinschaft".

Was bringt der Glaube?

Heinrich: Das habe ich gerade an Ostern wieder ganz intensiv erlebt. Dieser Karfreitag, wo alles düster und tot und dann diese zwei Tage später, wo irgendwie wieder alles gut und jeder happy ist? Und dazwischen gibt es diesen Tag, wo man leicht ins Zweifeln kommen kann. Da wird das für mich irgendwie deutlich: Als gläubige Menschen gehen wir sicherer durch diese Welt, weil wir genau diese Erfahrungen haben zwischen Karfreitag und Ostersonntag, weil wir wissen, es gibt den Tod und es gibt die Auferstehung. Es gibt sehr Böses und es gibt sehr Gutes. In dieser Spannung müssen wir bestehen. Der Blick auf Ostern hilft mir dabei, in dieser Welt unverzagt weiterzugehen. Für das allein lohnt sich der Glaube schon.

Anna-Nicole Heinrich

EKD-Präses
Evangelische Kirche

Anna-Nicole Heinrich studiert Philosophie in Regensburg. Am 8. Mai 2021 wurde Heinrich zur Präses der EKD gewählt. Auf dieser Seite finden Sie alle Artikel, in denen sich Anna-Nicole Heinrich geäußert hat oder in denen sie erwähnt wird.