Um einen Klöppel auszumessen, kriecht Michael Plitzner schon einmal in den Klangkörper einer Glocke hinein. Mit einem Messschieber stellt der Glockenforscher fest, wie groß die Kugel am Ende des Klöppels ist, die die Glocke anschlägt. "Oft sind die Klöppel zu groß und zu schwer für die Glocke", erläutert Plitzner. Der Theologe und Maschinenbauingenieur ist Geschäftsführer des Europäischen Kompetenzzentrums für Glocken "ECC ProBell" an der Hochschule Kempten. Seit 2005 wird dort Glockenforschung betrieben. "Begonnen hat alles mit der Frage: Warum gehen Glocken kaputt?", sagt Plitzner.
Dem gehen die Kemptener Forscher seitdem nach. Ihr Versuchsort ist eine schlichte Halle auf dem Campus der Hochschule. An den hohen Wänden des ECC-Schalllabors sind Hunderte großer Dreiecke aus Schaumstoff angebracht. Sie dämmen den Schall nach außen. Versuchsglocken hängen an Glockenstühlen aus Metall und Holz. Einige von ihnen sind mit Sensoren ausgestattet, die aufzeichnen, was mit der Glocke passiert, wenn der Klöppel anschlägt. "Bei jedem Anschlag verformt sich die Glocke", erläutert Ingenieur Plitzner. Dies lasse mit der Zeit das Material ermüden. So können Risse in der Glocke entstehen, die den Klang verändern – oder ihn sogar ganz zerstören.
Schon mehr als 200 Glocken untersucht
Vor allem seit Mitte des 20. Jahrhunderts passiere dies immer wieder, berichtet der Glockenforscher. Weil die Städte lauter wurden, habe man oftmals auch die Klöppel in den Glocken größer und schwerer gemacht. Gleichzeitig wurden die Geläute elektrifiziert. Meist stieg damit auch die Wucht, mit der der Klöppel anschlug. Beides setzte den Glocken zu. "Viele gingen kaputt", sagt Plitzner. Umso wichtiger sei es, den heutigen Bestand zu bewahren. "Forschung zum Schutz eines wertvollen Kulturguts", nennt Plitzner daher seine Arbeit.
Mehr als 200 Glocken haben die Kemptener Forscher bislang untersucht – und deren "Läuteverhalten optimiert", wie es im Fachjargon heißt. Es gehe vor allem darum, die Glocke "schonend" zu läuten, erklärt Michael Plitzner. Entscheidend sei das Zusammenspiel zwischen Klöppel und Glocke: "Es gibt eine Größe der Belastung, mit der man die Glocke unendlich oft anschlagen kann, ohne dass sie kaputtgeht." Wichtig seien dabei die Form des Klöppels und das Tempo, mit dem er auf dem Glockenring auftrifft.
Dieses Zusammenspiel haben die Kemptener Experten eingehend erforscht. Für Glocken in ganz Europa entwarfen sie neue, schonende Klöppel – darunter für prominente Glocken wie etwa die große "Pummerin" im Wiener Stephansdom. Aber auch die Geläute im Kölner Dom, in der Münchner Frauenkirche, im Freiburger Münster und sogar im Petersdom in Rom haben die Forscher schon unter die Lupe genommen.
Jede Glocke, sagt Michael Plitzner, habe ihr eigenes Klangbild: "Sie ist immer ein Unikat, ein Handwerksstück, und hat daher einen einmaligen musikalischen Fingerabdruck." Um diese Klangbilder festzuhalten, bauen die Forscher derzeit eine Datenbank auf. So lasse sich immer wieder überprüfen, ob sich der Klang einer Glocke verändert hat. Dies soll helfen, Schäden früh zu erkennen.
Tüfteln am "Glockenkuss"
Ohnehin spiele die Erforschung des Klangs einer Glocke und ihrer Lautstärke eine immer größere Rolle, meint Plitzner. Beides werde bestimmt vom "Glockenkuss", der Berührung von Klöppel und Glocke. Je härter und schneller sie ausfällt, desto schriller ist der Klang. Es gelte daher, den Kuss sanfter und länger zu machen: durch eine andere Form und langsamere Geschwindigkeit des Klöppels. "Dadurch rücken tiefe Töne mehr in den Vordergrund", meint Plitzner. Der Klang werde runder, weicher – man empfinde ihn als weniger laut.
Dieses Klangdesign mithilfe des Klöppels sei eine relativ junge Forschungsdisziplin, sagt der Glockenexperte – aber eine vielversprechende. Sie helfe, das Wesen des Glockenklangs besser zu verstehen. Schließlich stecke in jeder Glocke ein Teil unserer Kultur, so Plitzner: "Die ältesten Glocken sind über 1000 Jahre alt. Durch sie kann man bis heute den Sound des Mittelalters hören."