»Ich kann nicht mehr, passt auf euch auf.« An den letzten Satz ihres Mannes wird sich Karin Taimanglo-Spichal immer erinnern. Sechs Jahre lang war ihr Mann bereits krank zu Hause, bevor er nach einer Operation an multiplem Organversagen starb. Die Nachricht trifft sie und ihre Tochter dennoch wie aus heiterem Himmel: »Trotz der sechs Jahre konnte ich mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn man jemanden verliert. Die ersten Monate waren die Hölle. Es war schrecklich, eine ständige Achterbahnfahrt der Gefühle. Im Alltag muss man funktionieren, doch dann kommen die Erinnerungen.«
Weil ihr Mann so lange zu Hause war, hat ihre heute 12 Jahre alte Tochter extrem viel Zeit mit dem Vater verbracht. Sie haben zusammen Hausaufgaben gemacht, gespielt. Das fehlt. Heute nimmt sich Karin Taimanglo-Spichal so viel Zeit wie es nur geht für ihre Tochter und verbringt jede Mittagspause mit ihr. Außerdem wohnt die Oma im Haus und kann sich kümmern, während die Mutter arbeiten geht. Der Alltag funktioniert. Doch was ist mit der Traurigkeit, der Trauer?
Um Hilfe bitten kostet Überwindung
Durch einen Zeitungsbericht ist die Familie auf Lacrima aufmerksam geworden, das Zentrum für trauernde Kinder der Johanniter in Oberfranken. »Meine Tochter wollte keine Einzelgespräche mit einem Psychologen. Aber mir war klar, dass ich etwas machen muss. Ständiges Verdrängen macht krank. Und ich möchte, dass meine Tochter ein stabiler, ein selbstbewusster und starker Mensch wird.« Um Hilfe zu bitten kostet dennoch Überwindung. Sich trotzdem an Lacrima zu wenden war der richtige Schritt – für Mutter und Tochter. Denn parallel zu den trauernden Kindern werden bei Lacrima auch die hinterbliebenen Eltern von ehrenamtlichen Trauerbegleitern unterstützt. Und das Wichtigste: Sowohl die Kinder als auch die Eltern treffen bei Lacrima Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Trauernde Kinder wollen stark sein, ihre Eltern schützen und diese nicht mit ihrer eigenen Traurigkeit belasten. »Meine Tochter sagt mir manche Sachen gar nicht. Sie will mich nicht verletzen, mich nicht traurig machen. Bei Lacrima hingegen kann sie über alles reden. Was sie dort sagt, erfahre ich auch nicht«, erzählt Karin Taimanglo-Spichal. So empfindet es auch ihre Tochter: »Wenn ich über Papa rede, dann bist du traurig, und dann werde ich auch traurig, und das ist doof.« Bei Lacrima finden betroffe Kinder einen geschützten Raum, in dem sie ihre Trauer bewusst leben können.
Die 12-Jährige freut sich auf die zweiwöchentlichen Lacrima-Gruppenstunden, die sie seit vergangenem Dezember besucht: »Man sieht, wie die anderen damit umgehen. Es ist schön, wenn man in der Gruppe darüber reden kann, besser als nur zu zweit. Und je öfter ich darüber spreche und damit konfrontiert werde, desto leichter kann ich auch darüber reden.«
Hilfe beim Trauerprozess
In den Gruppenstunden gibt es Platz für die Wut und die Tränen der Kinder. Es wird gespielt, getobt, gebastelt, gesprochen – oder einfach geschwiegen. »Jedes Kind kann bei Lacrima seinen eigenen Weg und sein eigenes Tempo finden, um den Trauerprozess zu bewältigen«, erzählt Vera Mertens, die sozialpädagogische Leiterin von Lacrima. Aber auch die Eltern verliert Lacrima nicht aus dem Blick – ein Aspekt von Lacrima, der für Karin Taimanglo-Spichal sehr wichtig ist: »Der Alltag, die Arbeit, das ist viel Verdrängung und Flucht. Doch wenn ich bei Lacrima bin, dann kann ich auch heulen, weil das der Raum ist, um sich mit der Trauer auseinanderzusetzen. Wir Eltern sind sehr offen miteinander – wir lachen auch zusammen; und dann gibt es wieder Tränen.«
Etwa zwei bis drei Jahre werden Kinder und Eltern im Schnitt bei Lacrima begleitet, bevor sie einen eigenen Weg für ihre persönliche Trauer gefunden haben und sich aus der Gruppe verabschieden. Vera Mertens erklärt: »Es reicht nicht, zu sagen, dass man den Verlust akzeptiert hat. Ein wichtiger Schritt ist es, beim eigenen Gefühl anzukommen. Stabil sein heißt auch, die Trauer zulassen zu können.«
Die Trauer zu durchleiden ist schwer, sie wird Mutter und Tochter ein Leben lang begleiten. Doch Lacrima hilft ihnen, einen Weg zu finden und sich neu zu orientieren. »Bei Lacrima ist Trauer eine Selbstverständlichkeit. Sie erhält bei uns einen Platz im Leben, der ihr zusteht«, so Vera Mertens. Karin Taimanglo-Spichal jedenfalls ist froh, dass es Lacrima gibt: »Ich denke nicht, dass ich ohne Lacrima so weit wäre, wie ich es heute bin. Ich kann jedem in einer ähnlichen Situation nur empfehlen, das Angebot anzunehmen. Es ist wichtig, Menschen zu treffen, die das Gleiche erlebt haben, die im gleichen Boot sitzen.«