Denn am 19. April 1518 schrieb der spätere Reformator aus dem Würzburger Augustinerkloster an seinen Wittenberger Vertrauten Georg Spalatin einen Brief. In diesem berichtete er seinem Mentor, dem Privatsekretär des sächsischen Kurfürsten Friedrich der Weise, über die Begegnung mit dem zu dieser Zeit schon fast 60-jährigen geistlichen Fürsten.

Der wohl 1459 geborene Spross einer fränkischen, im Grabfeld ansässigen Niederadelsfamilie hatte sich seit seiner Wahl im Jahr 1495 als eifriger Verwaltungs- und Klosterreformer und Diplomat im Dienst des Ewigen Landfriedens einen Namen gemacht. In die Bibra-Zeit fällt auch die Blütezeit des Bildhauers Tilman Riemenschneider, der um 1520 das Bibra-Epitaph für den Würzburger Dom schuf.

Ablasskritiker auf dem Fürstenthron

Auch wenn das Original des Lutherbriefs im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurde, überliefert ein Druck den Text. In der Übersetzung des Würzburger Historikers Prof. Hans-Wolfgang Bergerhausen liest sich das lateinische Schreiben so: "Der hochwürdigste Herr Bischof aber nahm persönlich den Empfehlungsbrief in Empfang, ließ mich rufen, und von Angesicht zu Angesicht sich mit mir unterhaltend, wollte er auf seine eigenen Kosten mir einen Boten bis Heidelberg zugesellen. Ich aber – da ich hier mehrere Ordensgenossen traf, … – lehnte dankend ab, da ich es nicht für nötig hielt, meinethalben einen Boten zu belästigen... Nur Eines bat ich, er möge mich mit einem Empfehlungsschreiben, öffentlichen Geleitsbrief (wie man sagt), versehen, den ich zur Stunde empfing."

Dass der Fürstbischof den Augustinermönch sofort und persönlich empfing, lässt sich aus den guten Beziehungen Bibras zu seinem sächsischen Nachbarn erklären. Ein weiterer Grund für den freundlichen Empfang: Der Würzburger Fürstbischof vertrat im Herbst 1518 auf dem Augsburger Reichstag in Sachen Ablass eine äußerst romkritische Haltung. Hieraus lässt sich schließen, dass der weltläufige geistliche Fürst, der auch in Bologna studiert hatte, die Veröffentlichung der 95 Thesen des Augustinermönchs ein halbes Jahr zuvor zumindest mit Interesse, wenn nicht mit Wohlwollen registriert haben dürfte.

Nicht belegt hingegen sind die genaueren Umstände der Begegnung. Wahrscheinlich ließ Bibra den Augustinermönch in seine Residenz auf dem Marienberg rufen. Was sah Luther auf seinem Weg?

Bibras Residenz wirkte noch mittelalterlich

Nachdem er am 18. April 1518, einem Sonntag, das Augustinerkloster am Platz des heutigen Polizeipräsidiums verlassen hatte, ging er wahrscheinlich durch die heutige Augustinerstraße Richtung Grafeneckart. Dann wird er die Alte Mainbrücke – noch ohne barocke Heiligenfiguren – überquert haben.

Bibras Residenz auf dem Marienberg wirkte vor Julius Echters Baumaßnahmen und ohne die barocken Bastionen noch mittelalterlich. Außen umfriedete sie die mit – teils frisch sanierten – Rundtürmen verstärkte Mauer. Nach dem ziemlich steilen Anstieg dürfte der spätere Reformator als Erstes das 1482 vollendete Scherenbergtor durchquert haben. Denn wegdenken muss sich der heutige Festungsbesucher die vorderen beiden fest umbauten Burghöfe. Im Innenhof des Schlosses mag Luther den monumentalen Bergfried aus dem 13. Jahrhundert bewundert haben.

Ein paar Schritte weiter könnte er über die 1511 erbaute Bibratreppe in die fürstlichen Gemächer gelangt sein. Die drei Säulen der in einem achteckigen Anbau verborgenen Wendeltreppe winden sich elegant um eine Hohlspindel, die Tragrippen mit einem Netzgewölbe verbinden. Als Auftraggeber für eine repräsentative Wendeltreppe befand sich Bibra in bester Gesellschaft: So hatte Kaiser Maximilian I., der Würzburg 1505 und 1512 besucht hatte, schon um 1500 in Graz eine Doppelwendeltreppe erbauen lassen.

Reformatorische Spekulation

Auf dem Weg zurück in die Stadt dürfte Luther die Weinberge bewundert haben, die das im Tal gelegene Würzburg einschlossen. Dass ihm die Bedeutung des Weinanbaus nicht entgangen war, belegt seine Bemerkung im Brief vom 19. April 1518: "Die Hoffnung der Franken geht darauf hinaus, wie wohl heuer der Wein gedeiht. Sie meinen, wenn ein schöner Mai kommt, kanns gut werden."

Dass der Reformator bei Bibra einen positiven Eindruck hinterließ, legt ein von Spalatin überliefertes Zitat aus einem von Bibra Anfang 1519, kurz vor seinem Tod, verfassten Brief an Friedrich den Weisen nahe. Als der Kurfürst überlegte, ob man Luther zur Rechtfertigung seiner Thesen an die römische Kurie reisen lassen sollte, habe ihm der Fürstbischof geschrieben: "Eur Liebe wolle je den frummen Mann, Doctor Martinus, nicht wegziehen lassen, denn ihm geschähe Unrecht." Dass Bibra "luterisch worden, so er lenger gelebt hette", wie Luther 1540 laut der Aufzeichnungen seiner Tischreden vermutet haben soll, ist allerdings reine Spekulation.

LITERATUR

Hans-Wolfgang Bergerhausen, Protestantisches Leben in Würzburg während des 16. Jahrhunderts. Eine Annäherung. Sonderveröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg 10, Neustadt an der Aisch 2017.