Gismo scheint diesen Augenblick zu genießen. Der schwarze Labradorhund liegt langgestreckt auf dem Boden – und ein wenig sieht es tatsächlich so aus, als würde er der Geschichte lauschen, die der siebenjährige Luca gerade vorliest. Der Kopf des Hundes lehnt gemütlich am Fuß des Schülers, der in das Buch mit dem Titel "Gespenster im Gepäck" vertieft ist. Neben den beiden sitzt Hundeführerin Claudia Schindele. Sie hilft Luca gelegentlich, wenn er beim Lesen ins Stocken gerät – und lobt ihn, wenn er einen Satz fehlerfrei zu Ende bringt.

Luca ist Schüler in der Klasse 2a der Grundschule auf dem Lindenberg in Kempten. Zusammen mit etwa einem Dutzend anderer Klassenkameraden darf er einmal in der Woche dem Labrador Gismo und dem Schäferhund Endy vorlesen. Die Hunde gehören zum Projekt "Lesehunde" des Regionalverbands Allgäu der Johanniter. Es ist jüngst mit dem Bayerischen Innovationspreis Ehrenamt ausgezeichnet worden. Speziell ausgebildete Hundeführer besuchen dabei seit diesem Schuljahr mit ihren Tieren zwei Grundschulklassen in Kempten und Bad Wörishofen. Die Kinder lesen den Hunden regelmäßig vor. So sollen vor allem leseschwache Schüler ihre Lesefähigkeit verbessern.

"Der Hund ist einfach nur da"

"Wir haben sehr viele zappelige Kinder in der Klasse", sagt Lehrerin Ingrid Herrmann: "Kinder, die sich schwertun mit dem Lesen." Als sie von der Idee der Lesehunde hörte, habe sie gedacht: "Das wäre doch was für meine Schüler", berichtet die Pädagogin. Dabei hat Herrmann gehörig Angst vor Hunden. Als die stattlichen Tiere das erste Mal vor der Klassenzimmertür standen, sei sie instinktiv zwei Schritte zurückgewichen, erzählt sie. "Aber die Kinder waren hellauf begeistert."

Am ersten Tag lernten die Grundschüler die Hunde erst einmal kennen. Danach durfte jeder aus der Klasse den Tieren sein Lieblingsbuch präsentieren. Mittlerweile sind es vor allem Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten, die den Hunden in einem separaten Klassenzimmer ein Buch ihrer Wahl vorlesen. "Wenn die Hunde da sind, herrscht eine besondere Atmosphäre im Raum", sagt Friederike Mehrhof-Volbert, die das Lesehunde-Projekt bei den Allgäuer Johannitern koordiniert. Der Hund strahle Gelassenheit und Ruhe aus. "Er spottet nicht und hänselt nicht, wenn ein Kind einmal ins Stocken gerät", meint Mehrhof-Volbert: "Er ist einfach nur da."

Das reicht offenbar aus, um vielen Kindern die Angst vor dem Lesen zu nehmen. "Ein Hund kann helfen, den Stress beim Lesen abzubauen", sagt Andrea M. Beetz. Die Erlanger Psychologin und Sonderpädagogin hat mehrere Studien zur Wirkung von Lesehunden auf Schulkinder veröffentlicht. Die Ergebnisse zeigten, dass das Lesen mit Hund "das Potenzial hat, die Lesekompetenz der Kinder deutlich zu verbessern", meint die Wissenschaftlerin. So hätten in einer Untersuchung mit Drittklässlern jene Kinder, die während der Leseförderung einem Hund vorlasen, deutlich größere Fortschritte bei der Leseleistung erzielt, als Kinder, bei denen kein Hund dabei war. Gleichzeitig waren die Verbesserungen bei den Kindern mit Hund auch dauerhafter – und die Kinder hatten hinterher mehr Spaß am Lesen. "Das heißt: Der Hund wirkt sowohl entspannend als auch motivierend", erläutert Andrea M. Beetz.

Auf diesen Effekt hofft auch Lehrerin Ingrid Herrmann in ihrer Klasse. Ob sich die Lesefähigkeit der Kinder durch die Hunde wirklich verbessere, müsse man zwar erst einmal abwarten, meint die Pädagogin. "Aber dass die Kinder mehr Selbstvertrauen haben und mehr Freude am Lesen – das merkt man jetzt schon." So wie bei der siebenjährigen Amelie: Während ihr Klassenkamerad Luca dem Hund Gismo vorliest, sitzt sie daneben und wartet, bis sie an die Reihe kommt. Ab und zu steht sie auf, um den Hund zu streicheln. "Wenn ich vor der Klasse vorlese, dann lachen einige mich aus", berichtet sie. "Aber wenn ich dem Hund vorlese, geht es mir gut. Da habe ich dann keine Angst mehr."