Das Theaterstück "Gott" von Ferdinand von Schirach wird am Montag in prominenter Besetzung im Ersten ausgestrahlt und anschließend in der Sendung "hart, aber fair" diskutiert. Es geht um das Recht auf einen assistierten Suizid. Der Sterbewunsch eines gesunden alten Mannes wird bei Schirach in einer fiktiven Ethikratssitzung von mehreren Sachverständigen erörtert.

Der Professor für Systematische Theologie an der Uni Erlangen und frühere Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, äußert sich im Gespräch mit dem Sonntagsblatt enttäuscht von der Darstellung. Schirach habe Chancen vertan und einseitig Stellung bezogen, so Dabrock.

Der ärztlich assistierte Suizid wird bei Schirach in einer Ethikratssitzung von mehreren Sachverständigen erörtert. Reflektiert das Stück angemessen alle Aspekte der Debatte?

Dabrock: Unabhängig von Qualität und Tendenz von "Gott" ist es gut, dass das Thema ärztliche Suizidassistenz öffentlich wieder breiter debattiert wird. Zu loben ist auch, dass Autor, Theater- und Filmensembles sich der schwierigen Aufgabe gestellt haben, angesichts des bahnbrechenden Karlsruher Urteils, das erst im Laufe der Proben gesprochen wurde, das Stück umzuschreiben und neu einzustudieren.

Dadurch hat die Vorlage eine neue Pointe erhalten, die in das Bewusstsein der Bevölkerung noch viel stärker einsacken muss: Es gibt nach dem Urteil vom Februar 2020 keinerlei Begrenzung für Suizidbeihilfe durch Krankheitszustand oder Lebensphase mehr - Deutschland hat damit bei der Suizidbeihilfe eine der liberalsten Rechtslagen weltweit.

Vor diesem Hintergrund enttäuscht das Stück "Gott". Es gibt sich den Anschein eines Volkserziehungstheaters. Ein Bildungserlebnis ist es deswegen noch lange nicht. Zwar lernt man juristisch einiges, doch wenn es darum geht, für Zweideutigkeiten zu sensibilisieren, bleibt das Stück weit hinter den denkbaren Bildungsmöglichkeiten zurück. Bei der Komposition der Figuren wie ihrer Argumente hat der Autor seine Sympathien eindeutig verteilt.

Man erhält in weiten Teilen eine Werbeschrift für ärztliche Suizidassistenz. Das kann man selbstverständlich alles so machen - nur sollte die ARD nicht kolportieren, als ob im Stück das Pro und Contra einigermaßen fair dramaturgisch aufgearbeitet sei.

Wo sehen Sie Schwachstellen oder blinde Flecken?

Dabrock: Von Schirach komponiert alles so, dass seine Neigung für die Position des im wahrsten Sinne lebensmüden Protagonisten, der von seiner Hausärztin Natrium-Pentobarbital erhalten und sich damit das Leben nehmen möchte, und seinen leidenschaftlichen Anwalt erkennbar wird. Dagegen sind die Gegner der assistierten Suizidbeihilfe inhaltlich schwach und in ihrem Charakter unangenehm gezeichnet: Der Ärztevertreter tut sich mehr als schwer, seinen Hippokratischen Eid glaubwürdig in die Gegenwart zu übersetzen.

Der katholische Bischof plagt sich mit einer Gebotsethik, die unbarmherzig erscheinen soll, und mit vermeintlich absolut geltendem Lebensschutz. Gleichzeitig muss die Anwältin der Kritik von Suizidassistenz ziemlich naiv agieren - sie weiß als Ethikratsmitglied nicht mal, dass in den Benelux-Ländern auch Kinder und Jugendliche Euthanasie erhalten können.

Wie finden Sie denn generell den Ethikrat in dem Stück gespiegelt?

Dabrock: Natürlich kann von Schirach künstlerisch machen, was er will. Aber er verpasst eine große Chance, indem er seine "Ethikratssitzung" wie eine Gerichtsverhandlung aufbaut. Ethikratssitzungen und -voten zielen - im Unterschied zu Gerichtsurteilen und ihnen vorausgehenden Gerichtsverhandlungen - ja eher auf einen Korridor von Empfehlungen für Entscheidungen.

Es hätte dem Dramaturgen von Schirach deutlich mehr Anstrengung abverlangt, wenn er unter dem Mantel "Ethikratsitzung" nicht einfach sein aus dem Stück "Terror" bekanntes Publikumsentscheidungsspiel hätte vermarkten wollen. Bei Ethikratssitzungen und -voten kommt es darauf an, die Unterschiedlichkeit der Grautöne herauszuarbeiten und nicht einfach schwarz-weiß zu malen.

Bischof Thiel, der katholische "Sachverständige", wirkt mit seiner theologisch-dogmatischen Argumentation aus der Zeit gefallen und abgehoben. Wird der Bischof, wird die Kirche bei Schirach unfair behandelt?

Dabrock: Schaut man sich die Argumente an, die von Schirach dem Bischof in den Mund legt, an, kann man zunächst denken: Dieser darf einige bedenkenswerte Dinge sagen, wie etwa die Einsicht in die Verletzlichkeit und Beziehungsverbundenheit menschlichen Lebens.

Doch stellt sich bald der Eindruck ein, einem argumentativen Strohmann zu begegnen: Der Bischof ist nicht in der Lage, seine Gebotsmoral in die Sprache moderner Menschen zu übersetzen; er beruft sich unaufgeklärt auf Bibel oder Kirchenväter und räumt der Selbstbestimmung des Menschen bestenfalls sekundäre Bedeutung ein.

Von Schirach scheint ein Vorurteil zu pflegen, dass theologisch und kirchlich offensichtlich nur an Menschenrechten und Verfassungsrecht vorbei argumentiert werden kann. Seine eigene Kenntnis von Moraltheologie und theologischer Ethik hört im Grunde bei der katholischen Vorkonzilstheologie, also vor 60 Jahren, auf. Natürlich gibt es diese Positionen auch heute noch.

Aber in der theologischen Ethik und auch von Theologinnen und Theologen im Ethikrat wird heute deutlich anders argumentiert. Das will von Schirach das Publikum aber wohl nicht hören lassen.

Unterscheidet sich die evangelische Position zum assistierten Suizid von der katholischen, für die Lebensschutz bis zum Ende unabdingbar ist?

Dabrock: Theologische Ethik scheint es für von Schirach offensichtlich nur in katholischer Variante oder in einer als theologische Ethik kaum mehr erkennbaren liberalen Form, die im Buch ja sogar eine Stimme erhält, zu geben. In einer Ethikratssitzung hätte deutlich werden können, dass theologische Ethik im Gespräch mit dem Verfassungsrecht die Selbstbestimmung des Einzelnen ernstnehmen, zugleich aber auch versuchen kann, auf Wege hinzuweisen, die Alternativen würdevollen und selbstbestimmten Sterbens ermöglichen - diesseits von ärztlicher Suizidassistenz und zudem mit milderen Mitteln. Aber auf ein solches Genre wie auf solche moderaten wie lebenspraktischeren Positionen lässt sich von Schirach nicht wirklich ein.

Die Dramaturgie seines Stückes lebt von Polarisierung.

Wie verstehen Sie den Titel "Gott" in Bezug auf das Stück? Gut gewählt, oder einfach nur knallig?

Dabrock: Es ist Markenkern und Marketingstrategie des Erfolgsautors von Schirach, Ein-Wort-Titel zu wählen. Insofern fügt sich die Titelwahl konsequent und nachvollziehbar in seine Schreibe und Verkaufspolitik ein. Geschickt und - im wahrsten Sinne des Wortes - denkwürdig ist, dass sie den Leserinnen und Lesern viele Fragen mit auf den Weg gibt: Religionsgeschichtlich gilt die Entscheidung über Leben und Tod als eine göttliche Domäne. Dem Menschen, der darin eingreift, wird oft entgegengehalten, er spiele Gott.

Im Hinblick auf Suizidassistenz wirft dies Fragen auf wie: Kann/darf/muss der Mensch, der diese Möglichkeit hat, sie auch ergreifen? Oder kann/darf/muss er sie verhindern? Kommt ihm als Individuum, als Arzt oder Bischof, die Wirkung des Gottspielens zu? Ist dies vielleicht eine menschliche Überforderung? Oder nach dem von einigen proklamierten "Tod Gottes" eine unvermeidliche Aufgabe?

All dies schwingt für mich in der Namensgebung des Stückes mit - und weil es um solche letzten Fragen geht, ist der Titel gut gewählt. Bei der Titelwahl gestehe ich dem Autor die für ein Bildungserlebnis so wichtige Zweideutigkeitssensibilität zu, die ich im Stück zu oft vermisse.

Ist es richtig und ethisch vertretbar, die Zuschauer am Ende abstimmen zu lassen?

Dabrock: Kunst ist frei, und diese Freiheit zu verteidigen, ist meines Erachtens eine ethische Aufgabe. Das Abstimmungsspiel "Terror" hat große Wirkung gezeigt - und es ist nachvollziehbar, dass ein Autor, dadurch motiviert, ein Sequel konzipiert. Offensichtlich wollte er aber etwas Neuartiges wagen. Das Ergebnis verfehlt nicht nur die spezifische Beratungsarbeit des Ethikrats, sondern lenkt die gesellschaftliche Debatte in einer komplexen Fragestellung in gewollt unterkomplexe Alternativen hinein.

Das kann man machen. Von Schirach hat es gemacht. Die ARD und viele Theater geben ihm Raum. Diejenigen, die es anders sehen, müssen selbst das Nötige tun, um auf Alternativen hinzuweisen.