Ich muss gestehen, dass ich ratlos bin. Eigentlich sogar sprachlos. Sprachlos und ratlos bin ich deshalb, weil ich fassungslos bin, genauer gesagt zunehmend fassungsloser werde. Und zwar deshalb, weil sich die öffentliche Debatte über Israel und Palästina in eine Richtung zu neigen beginnt, die in der Bundesrepublik Deutschland und in der evangelischen Kirche Deutschlands seit dem Kriegsende tabu war. Man könnte geradezu von einem gesellschaftlichen Klimawandel, vielleicht sogar von einer Klimakatastrophe reden, deren entscheidende Kipppunkte hin zu einer fatalen Zeitenwende womöglich just in diesen Tagen überschritten werden. Zu meinem wachsenden Entsetzen will es mir scheinen, als seien fast achtzig Jahre zivile und kirchliche Antisemitismuspräventionspädagogik für die Katz gewesen und als gehe die Epoche "nach Auschwitz" zu Ende. Letzteres kann man unschwer daran erkennen, dass der Judenhass fröhlichere, akzeptiertere und daher schamlosere Urstände denn je feiert.
Dass er aus der rechtsradikalen Ecke kommt, ist nicht weiter überraschend. Damit war immer schon zu rechnen. Der rechte Antisemitismus ist gewissermaßen das Urbild gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Viele "Linke" neigen daher etwas kurzschlüssig dazu, Rechtsradikalismus und Antisemitismus zu identifizieren, Antisemitismus faktisch vom empirischen Judentum abzukoppeln und abstrakt zum Synonym für Rassismus, Hass, Hetze und Diskriminierung zu erklären. so kann es geschehen, dass man mit gleicher Vehemenz gegen den Antisemitismus und gegen den jüdischen Staat Partei ergreift.
Für Israel nichts übrig
Dass es zum Selbstverständnis vieler, insbesondere radikaler Muslime gehört, für Israel nichts übrig zu haben, ja es von der Landkarte tilgen zu wollen, ist eigentlich ebenfalls nicht sonderlich verwunderlich. Aber es wird leicht zum blinden Fleck derjenigen, die von einer multikulturellen Gesellschaft träumen und all zu blauäugig meinen, religiöse Identitätskonflikte und religiöser Hass würden in ihr keine Rolle spielen. Mich erstaunt es nicht, weil es wie gesagt gewissermaßen erwartbar ist.
Was mich allerdings wirklich entsetzt, ist die Schamlosigkeit, mit der sich in diesen Tagen an zahlreichen Universitäten in den Vereinigten Staaten und mittlerweile auch in Deutschland und der Schweiz menschenrechtliche Sensibilität und Wissenschaftlichkeit mit unverhohlenem Antisemitismus paaren. Der Journalist Thomas Thiel hat es in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" jüngst auf den Punkt gebracht: "Wenn an Universitäten Angehörige einer Menschengruppe von studentischen Aktivisten niedergebrüllt werden, wenn zu Massenmord und Terror aufgerufen wird und mehr als tausend Wissenschaftler vehement das Recht fordern, dass dies getan werden dürfe, dann ist das ein klares Zeichen, dass an den Hochschulen etwas nicht stimmt."
Dass Moralismus in Antisemitismus umkippt, begegnet mir inzwischen leider zunehmend auch bei Gesprächen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Je nachdem, ob meine Gesprächspartner oder ich mehr oder weniger auf Krawall gebürstet sind, mündet, was bei Kaffee, Bier oder Wein harmlos beginnt, in heftige Auseinandersetzungen und Verstimmungen oder eben in einen Themawechsel, um Freundschaften nicht zu gefährden.
Die Gespräche, die ich meine, verlaufen im Grunde immer nach demselben Muster. Man beteuert zunächst, überhaupt nichts gegen Juden zu haben (, was natürlich an sich schon ein Alarmsignal ist), nur gegen die Politik Israels. Dann macht man sich zum Anwalt der Menschenrechte, des Humanismus und der palästinensischen Zivilbevölkerung, ohne ein Wort über den bestialischen Terror des 7. Oktober zu verlieren. Man erzählt die Geschichte Palästinas seit dem Zweiten Weltkrieg. Und zwar erzählt man sie so, dass man sie umschreibt und dass am Ende Israel als alleiniger Täter dasteht, für dessen Aktionen man keinerlei Verständnis hat. Letztlich siegt in diesen Argumentationen immer die Hamas.
Jewish Life Matters
Meist schlägt mir dann das größte Unverständnis entgegen, wenn ich zu bedenken gebe, dass ich mich als christlicher Theologie in einer jüdisch-christlichen Geschichte beheimatet sehe, angesichts der ich einfach nicht davon abstrahieren kann, dass aus biblischer Sicht zum Volk Israel auch das Land gehört und daher Sympathiebekundungen für "die Juden" gegenstandslos sind, wenn sie nicht auch dem Staat Israel die Verteidigung seines Existenzrechts zubilligen.
Einmal riskierte ich die Behauptung, es sei billig und zynisch, sich nur unter der Bedingung mit dem Judentum zu solidarisieren, dass es staatenlos und heimatlos sei, aber das Judentum für zionistisch, genozidal und böse zu halten, sobald Jüdinnen und Juden das Land Israel, genauer gesagt die einzige Demokratie im Nahen Osten gegen ihre Feinde verteidigen. Als ich das sagte, zeigte sofort ein Postkolonialismus wie aus dem Bilderbuch seine Zähne. Ich konnte meinem Gegenüber und seiner schäumenden, hamasterrorvergessenen Wut nur zurufen, was das Theologenpaar Gabriele und Peter Scherle vor einigen Monaten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu bedenken gab: "Jewish Life Matters!" Glücklicherweise gelang es, das Gespräch wieder in ruhigere Gewässer zu lenken, ehe das Gespenst des Vorwurfs, dass "die Juden" letztlich "Nazis" seien, den Raum der Diskussion in Besitz nahm.
Es ist bemerkenswert, dass die Israelkritik in solchen Gesprächen in der Regel um so heftiger wird, je sichtbarer humanistische und menschenrechtliche Beweggründe an die Stelle religiöser Beweggründe getreten sind, also ersatzreligiöse Züge tragen. Je schwächer die Verpflichtung auf ein jüdisch-christliches Narrativ und die Verankerung in der Bundesgeschichte des Alten und Neuen Testaments werden, desto leichter scheinen sich antisemitische Vorverurteilungen einzuschleichen und desto relevanter scheinen sie für Argumentationen zu werden, die beteuern, ausschließlich menschenrechtlichen Beweggründen zu entspringen und daher gleichsam reflexartig die Palästinenser als Opfer und Israel als Täter detektieren. Faktisch wird dabei der bestialische Terror des 7. Oktober geleugnet, gelöscht, kontextualisiert und damit relativiert.
Es ist wirklich zum Haareraufen. Und weil es zum Haareraufen ist, frage ich mich, was ich in meiner Ratlosigkeit Christenmenschen raten soll, die Ähnliches beobachten wie ich. Natürlich frage ich mich auch, wie ich Menschen ins Gewissen reden soll, die aufrichtig beteuern, dass Kritik an Israel geboten und nötig ist und überhaupt nichts mit Antisemitismus zu tun hat, die aber drei Sätze später unter dem Deckmantel der Israelkritik das volle Programm antisemitischer Stereotypien auspacken.
Wie ich meine Ratlosigkeit auch drehe und wende: letztlich komme ich nicht über ein paar Navigationshilfen für ein wegloses, vielleicht sogar auswegloses Terrain hinaus. Sie entspringen der unverbrüchlichen Solidarität eines Christen aus Deutschland mit dem Volk Israel, seiner Geschichte und seiner Verheißung. Es sind Navigationshilfen eines Theologen, der als Christ jemandem nachfolgt, der selbst Jude war und dessen Kreuz die Inschrift trug: "Jesus von Nazareth, König der Juden". Ob diese Navigationshilfen die Argumentationsmuster des menschenrechtlichen Antisemitismus zu beeinflussen vermögen, weiß ich nicht. Aber hier sind sie.
Navigationshilfen
Erstens: Argumentiere nie so, dass deine Kritik an Israel von antisemitischen Argumenten gekapert wird. Sei ehrlich zu dir selbst und frage dich stets, ob bei deiner Israelkritik nicht vielleicht doch ein Judenhass den Ton angibt, der dir womöglich selbst nicht bewusst ist. Falls dem so sein sollte, dann schweige. Zweitens: Argumentiere, wenn du propalästinensisch argumentierst, nie so, dass die Hamas zuletzt lacht und ihre Terrorpropaganda in deiner menschenrechtlichen Argumentation am Ende den moralischen Sieg davonträgt. Drittens: Enthalte dich zumal aus deutscher Sicht letzter Verurteilungen Israels. Wenn du darauf verweist, dass Israel auch im Alten Testament unentwegt in der Kritik steht und sogar Gott selbst immer wieder mit Israel ins Gericht geht, dann bedenke: Israel ist und bleibt in den Augen Gottes auch dort das erwählte Volk und Kind seines Vaters, wo es Gottes Zorn, Schande und Asche auf sein Haupt häuft. Sag nicht: "Höre, Israel! So bist du, so solltest du sein und so hättest du eigentlich zu handeln!" Versuche vielmehr, Israel zu hören. Höre Israel und billige ihm das Recht zu, die Dinge anders zu beurteilen als du. Akzeptiere, dass zwischen seiner Sicht auf sich selbst und deiner Sicht auf Israel ein Unterschied ist. Und viertens und letztens: Versuche, dich bei allem, was du für Palästinenser und gegen Israelis zur Sprache bringst, in die Lage eines Menschen zu versetzen, dessen liebster Mensch zur Zeit Geisel der Hamas ist. Aber erliege bei diesem Akt der Empathie nicht der Versuchung, empathielos, schulterzuckend und kalt auf jene Menschen zu blicken, die in Rafah derzeit weder ein noch aus wissen.
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