"Jugendliche fühlen sich alleingelassen", sagt Jürgen Stein, einer der drei Geschäftsführer des Nürnberger Unternehmens Mentalis. Seinen Zahlen zufolge dauert es rund 20 Wochen, bis Jugendliche nach einem Erstgespräch mit einer Therapie bei einem Psychologen oder Psychotherapeuten beginnen können. Daher hat seine Firma nun die Therapie-App CareNow auf den Markt gebracht. Sie soll Jugendliche mit Symptomen, wie Angst, Essstörungen oder Gefühlen von Einsamkeit unterstützen. Idealerweise bevor es zu einer medizinischen Diagnose kommt, erklärt Stein.
Der Zugang zur digitalen Soforthilfe ist einfach und im Prinzip mit ein paar Klicks machbar. Man braucht für die Therapie-App bei der Anmeldung einen Code einer Krankenkasse, die das Medizinprodukt finanziert. "Aktuell haben wir bei CareNow neun Krankenkassen dabei", so Stein. Die beteiligten Kassen informieren ihre Mitglieder über die Helfer-App. Etwa ein halbes Jahr nach Start werde das Angebot gut angenommen, mehr als die Hälfte der überwiegend weiblichen Nutzer nutze CareNow wegen "Depressionsthematiken". Derzeit gibt es eine dreistellige Nutzerzahl.
Störungen bei Jugendlichen nehmen zu – und werden stärker
Die Störungs- oder Krankheitsgrade bei Jugendlichen nehmen zu, stellt Patrick Nonell fest. Der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter am Klinikum Nürnberg sagt, "die Patienten, die kommen, sind kränker." Damit meint er beispielsweise, dass Jugendliche mit Essstörungen inzwischen mit noch niedrigerem Gewicht in die Klinik kämen. Auch Angststörungen würden häufiger.
Seine Abteilung habe eine Behandlungskette aus ambulanten, teilstationären und stationären Angeboten aufgebaut. Allerdings reichten die Kapazitäten nicht aus, auch bei ihm gebe es Wartelisten. Das ist kein Einzelfall, "in ganz Deutschland gibt es zu wenig Kinder- und Jugendpsychiater" sagt Nonell. Der Anteil von Psychotherapeuten und Psychiatern über 55 Jahre sei hoch, es gebe ein Nachwuchsproblem. Hinzu kommt eine Unterversorgung in ländlichen Regionen, etwa in Westmittelfranken.
CareNow: App will Soforthilfe sein
Die App CareNow als eine Art Therapeut in der Hosentasche will eine hybride Soforthilfe sein. Medizinische Grundlage ist die kognitive Verhaltenstherapie. Jugendliche ab 13 Jahren, die dringend Unterstützung suchen, können sich ganz ohne Wartezeiten bei der App anmelden. Der digitale Helfer besteht aus einer Therapie-App und sieht bis zu 15 Telefongespräche mit qualifizierten Psychologen vor. Nach einem digitalen Erstgespräch, das bei Minderjährigen mit einem Erziehungsberechtigten stattfindet, wird ein individueller Therapieplan erstellt.
Dazu gehören etwa psychologische Aufgaben aus der kognitiven Verhaltenstherapie. So sollen sich Betroffene am Handy unter anderem ihr engeres soziales Beziehungsgeflecht bewusst machen. Dafür können sie etwa Eltern, Geschwister und Freunde in einzelne Kreise namentlich eintragen und dann am Bildschirm sie zu sich selbst in nahe oder entfernte Beziehung setzen. "Solche Übungen stärken die mentale Gesundheit", erklärt Stein. Andere Übungen in der App motivieren, über die eigene Risikosituation nachzudenken.
Notfallplan für Krisenfälle
Die App schlägt vor, Schmerzen, Verlangen nach Alkohol oder Gedanken, wie "Jetzt ist's auch schon egal", per Kreuzchen zu kennzeichnen. "Riskanter Substanzkonsum oder Konflikte in der Familie oder mit Freunden werden einem Rat suchenden Jugendlichen so deutlicher", ist sich Mentalis-Chef Stein sicher. Zudem sieht auch der betreuende Psychologe die Aktivitäten des App-Users und kann auf sie in der nächsten Online-Runde eingehen. Für Krisenfälle hält die App einen Notfallplan bereit.
Stein ist optimistisch, dass CareNow ein Erfolg wird, denn sein Mitgeschäftsführer, der Psychologe Christian A. Lukas habe 2014 Mentalis als Spin-Off aus der Uni Erlangen-Nürnberg heraus gegründet. Seitdem forscht er zu Smartphone-Apps für die psychische Gesundheit. Bereits etablierte Apps von Mentalis bieten eine hybride Kliniknachsorge ebenfalls mit regelmäßigen psychologischen Telefongesprächen für Erwachsene mit alkoholbezogenen Problemen, Essstörungen oder Depression.
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