Ihre erste Begegnung mit der Polizei wurde für Anna (Name von der Redaktion geändert) zum traumatischen Erlebnis: Beamte stürmten bewaffnet und in voller Montur in ihre Wohnung: "Das war wie im Actionfilm. Ich wurde umgelegt, gespritzt und wachte erst im Bezirksklinikum wieder auf", erzählt sie bei einem Treffen mit der Polizei in Regensburg.
Bis heute kann Anna das Vorgehen nicht verstehen. Sie hätte sich gewünscht, dass die Polizei es "mit Kommunikationstechniken" versucht, sagt sie nicht ohne Ärger in der Stimme. Anna leidet an paranoider Schizophrenie. Vor ein paar Jahren hatte sie ihre Tabletten abgesetzt und rutschte in eine akute Phase. In diesem Zustand schrieb sie eine bedrohliche E-Mail ans bayerische Innenministerium.
Die Behörde reagierte sofort. "Wenn solche Fälle vorliegen, müssen wir Maßnahmen ergreifen, um Gefahren abzuwehren", sagt Polizeihauptkommissar Markus Eckl. Die "bedrohliche Montur" habe nur dem Schutz der Beamten gedient. "Wir wissen ja nicht, was da auf uns zukommt."
Polizei wird gerufen, wenn es schon zu spät ist
Ein Ausnahmezustand, wie er nun einmal vorkommt: Ein Mensch braucht Hilfe, wird aber für andere unberechenbar. Die Polizei rückt an und soll die Gefahr bannen.
Polizeibeamte werden im Extremfall gerufen, wenn es eigentlich schon zu spät ist. "Wenn jemand von einer Brücke springen will oder einen anderen Menschen mit dem Messer bedroht", sagt Eckl. Patienten kommen nicht so ohne Weiteres in eine psychiatrische Klinik. Die vorläufige Unterbringung muss von einer Kreisverwaltungsbehörde oder einem Gericht angeordnet werden. So sieht es das bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz vor. In einem akuten Notfall aber muss die Polizei sofort handeln. "Da liegt das Vorgehen dann im Ermessen der Polizei", erklärt er.
Polizisten werden in ihrer Ausbildung auf solche Einsätze vorbereitet, später kommen Fort- und Weiterbildungen, vor allem Kommunikationstraining dazu. Mit "Echtfällen" hat er nie gearbeitet, sondern nur mit Schauspielern oder gestellten Fällen. "Das ist vielleicht ein Problem", sagt er. Eckl ist seit 30 Jahren im Polizeidienst tätig. "Je mehr Erfahrung, desto besser."
Pauschallösung gibt es nicht
Grundsätzlich versuche er als Erstes die Kontaktaufnahme. Das gelingt nicht immer und hänge von verschiedenen Faktoren ab. "Eine Pauschallösung gibt es da nicht." Wie der Einsatz abläuft, hängt von den Informationen ab, die vorliegen. "Von einem ärztlichen Dienst sind sie ausführlicher, als wenn wir von einem unbeteiligten Passanten zu einer Person gerufen werden, die sich auffällig verhält."
Im Jahr 2023 wurde die Polizei im Stadtgebiet von Regensburg zu knapp 500 Fällen gerufen, die eine vorläufige Unterbringung im Bezirkskrankenhaus zur Folge hatten. Maßnahmen wie Überweisungen an den psychiatrischen Krisendienst sind nicht erfasst. Die Gesamtzahl der Fälle, in denen die Polizei in psychischen Ausnahmesituationen gerufen werde, dürfte Eckl zufolge um ein Vielfaches höher liegen.
Das bayerische Innenministerium will auf epd-Anfrage keine Zahlen nennen. Das bloße Abstellen auf Fallzahlen von sofortigen Unterbringungen durch die Polizei dürfte "ein verzerrtes Bild auf einen möglichen Rückgang oder eine Steigerung von Fällen psychischer Ausnahmesituationen abgeben", sagte ein Sprecher. Demzufolge gelinge es immer häufiger, die vorläufige Unterbringung durch "weniger einschneidende Mittel" abzuwenden.
Doch auch im Stadtgebiet von Nürnberg wird täglich mehr als eine Person von der Polizei in eine psychiatrische Fachklinik eingewiesen, weil Eigen- oder Fremdgefahr bestand, teilte das Polizeipräsidium Mittelfranken auf Anfrage mit. Im Jahr 2022 und 2023 liegen die Zahlen im mittleren dreistelligen Bereich und seien demnach "annähernd gleich geblieben". In München waren es insgesamt 3300 Fälle von Unterbringungen im Jahr 2023, sagte eine Polizeisprecherin. Allerdings zählten auch Fälle dazu, in denen die Polizei nicht nur eine Gefahr für Leib und Leben abwenden musste, sondern auch Amtshilfe für das Gesundheitsamt leistete.
Menschen brauchen in erster Linie Hilfe
"Nur wenn die Situation eskaliert, wird Unterstützung durch die Polizei notwendig", sagt Hans Neulinger, Psychologe und Leiter des sozialpsychiatrischen Diensts Regensburg. Er wirbt um Verständnis für die Erkrankten. Menschen in einer akuten Psychose fühlten sich bedroht, hätten Angst und sähen sich in ihrer Vorstellung in einer Welt, in der sie sich wehren müssten, erläutert Neulinger. Nach außen wirkten sie dadurch aggressiv oder täten Dinge, die nicht in Ordnung seien, weshalb oftmals die Polizei um Unterstützung gebeten werde.
"In den allermeisten Fällen kommt es bei Psychosen aber nicht zum Kontakt mit der Polizei."
Menschen in akuten Phasen bräuchten in erster Linie Hilfe, sagt Neulinger. Straftaten oder drohende Vergehen seien dabei extreme Ausnahmen. Die allermeisten Menschen, die an einer Psychose erkrankt sind, "sind eben krank und keine Straftäter". Dieses Wissen müsse sich öffentlich mehr verbreiten.
Einsätze bei psychischen Ausnahmesituationen gehen auch an Markus Eckl nicht spurlos vorüber. In manchen Fällen habe er sogar zur Waffe greifen, aber sie "zum Glück nie gebrauchen müssen". Dann wendet er sich Anna zu: "Wenn ich gewusst hätte, dass Sie an paranoider Schizophrenie leiden, hätte ich es bestimmt zuerst mit Kommunikation versucht."
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