Als sich das Essverhalten ihrer 14-jährigen Tochter änderte, löste das bei Ute Maier (Name geändert) aus Esslingen am Neckar ganz viele verschiedene Gefühle aus: Sorge, Trauer, Schmerz, Überforderung. Dazu die Frage nach der Schuld, nach dem eigenen Anteil am Geschehen.

"Es fiel mir schwer, meine Rolle zu finden, mit den eigenen Gefühlen klarzukommen", sagt Maier. Von der ersten medizinischen Abklärung, ob die Magerkeit ihrer Tochter direkte medizinische Ursachen hat, bis zu einer Therapie verging rund ein Dreivierteljahr.

Essstörung: Kein Einzelfall

Dies sei kein Einzelfall, sondern typisch, sagt Micaela Neumann, Beraterin bei der Anlauf- und Beratungsstelle bei Essstörungen in Esslingen am Neckar. Sie ist die einzige derartige Fachstelle der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und auch im Landkreis Esslingen. Die Nachfrage steigt, im ersten Halbjahr 2023 gab es 220 Beratungskontakte. Im gesamten Vorjahr waren es 263.

Neumanns 50-Prozent-Stelle wird vom Landkreis finanziert, doch der Kreisdiakonieverband als Träger setzt auch Kirchensteuermittel und Spenden ein. "Dafür zahle ich gerne Steuern", sagt Maier und meint das doppelt - für die staatlichen und die kirchlichen Abgaben. Sie lobt nicht nur die kompetente Beratung, sondern auch die Elterngruppe, die ihr der Kreisdiakonieverband anbot.

"Als ich die Erzählungen der anderen betroffenen Eltern hörte, habe ich wieder ein Mitgefühl für mich selbst bekommen."

Erkrankung verändert Leben einer Familie

Die alleinerziehende Mutter weiß: "Das ist eine Erkrankung, die das Leben einer Familie verändert." Auch ihr Sohn war mit betroffen. Sie weiß auch um den großen Einfluss, den Soziale Medien und deren oft fragwürdige Vorbilder und Influencer auf ihre Tochter hatten: "Wie toll ist das Leben der anderen?" Hätte sie damals schon gewusst, was sie heute weiß, sagte sie im Rückblick, hätte sie dort stärker eingegriffen. Inzwischen ist ihre Tochter volljährig, das Thema Essstörung hat sie aber noch nicht vollständig verlassen.

Das Rauchen könne ein Mensch komplett sein lassen, sagt Eberhard Haußmann, Geschäftsführer des Kreisdiakonieverbands. Beim Essen sei es anders, es bleibe stets die Herausforderung, das rechte Maß zu finden.

"Es ist eine sehr lange Erkrankung", sagt Neumann. Wegen der steigenden Nachfrage nach Beratung solle nun die Prävention verstärkt werden. Neumann wird im neuen Schuljahr verstärkt Schulklassen ab der 7. Klasse besuchen. Nicht nur zur Information: Dadurch sinke auch die Hemmschwelle, dass diejenigen, die Beratung brauchen, diese tatsächlich in Anspruch nehmen. Zu einer Beratung zu gehen, sei viel leichter als gleich zu einem Therapeuten.

Die Scham, sich anderen zu öffnen, kennt auch Maier. Es habe sehr lange gebraucht, bis ihre Tochter mit ausgewählten Freundinnen über das Thema gesprochen habe. "Diese haben dann sehr positiv reagiert." Ein Jugendlicher, der sich durchgerungen hat, soll auf die Beratung nicht lange warten. "Wenn er ein Erstgespräch möchte, soll er es innerhalb von zwei Wochen bekommen", sagt Uwe Stickel, Leiter des Diakonischen Beratungszentrums Esslingen. Der Jugendliche darf dabei anonym bleiben.

Magersucht häufigste Essstörung

Die Fachstelle "Essstörungen" ist in das Gesamtangebot des Diakonischen Beratungszentrums eingebunden. Das ist wertvoll, denn manchmal gibt es mehrere Probleme gleichzeitig, etwa eine Essstörung und Überschuldung. Die häufigste Essstörung in der Esslinger Beratung ist die Magersucht (Anorexia Nervosa), mit großem Abstand folgen Bulimie (Bulimia Nervosa) und Esssucht (Binge Eating Disorder). Im 1. Halbjahr betraf die Beratung zu 55 Prozent Menschen unter 18 Jahren, 91 Prozent waren weiblich. Dies liegt aber laut Neumann auch daran, dass Frauen generell bereiter sind, eine Beratung in Anspruch zu nehmen.

Das Thema Essstörungen dürfe nicht bagatellisiert werden, sagt Neumann. Es sei keine Phase, die von selbst wieder weggehe. Auf dem Weg hinaus ist so manche Entscheidung und Erkenntnis nötig. Stickel hofft dabei auch auf die hilfreiche Erkenntnis manches Betroffenen, wenn in den Sozialen Medien die Magersucht gefeiert wird: "Das tut mir nicht gut, das sehe ich mir nicht mehr an."

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