Karin Baumgärtner vom Würzburger Verein für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung ist entsetzt. Am 5. September wird die neue Wohnanlage ihrer Organisation eröffnet - jedoch nur mit halber Belegung. Lediglich jede zweite freie Stelle konnte besetzt werden. "Wir finden kein Personal", sagt Baumgärtner. Die Personalnot in der Behindertenhilfe sei "ein großes Desaster".

Einrichtungen müssen schließen

Deutschlandweit bekommen nach ihren Worten Menschen mit Behinderung und ihre Familien die Auswirkungen fehlenden Personals zu spüren. Zunehmend erklärten Dienste einen Aufnahmestopp. Einrichtungen müssten ganz oder teilweise schließen.

Unbesetzte Stellen, knappe Personalschlüssel, ein hoher Krankenstand - das alles führt dazu, dass in den Einrichtungen viel zu wenige Menschen Dienst tun müssen. Davon berichtet auch Thomas Geggerle. Der Oberbayer ist alleinerziehender Vater eines 35-jährigen Sohnes, der wegen einer Hirnhautentzündung kurz nach der Geburt geistig schwer beeinträchtigt ist. Moritz, so heißt der junge Mann, lebt in einer evangelischen Behinderteneinrichtung in Bayern. Dort werde er zunehmend verwahrt, statt gefördert, klagt sein Vater.

Bessere Arbeitsbedingungen gefordert

Geggerle führte in diesem Jahr viele Gespräche mit Moritz' Betreuern. Was er da zu hören bekam, fand er so erschreckend, dass er eine Petition startete: "Für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen zur Betreuung von Menschen mit Behinderung", heißt sie. Adressiert ist sie an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und den Petitionsausschuss des Bundestags.

Seine Beobachtungen im Heim alarmieren ihn:

"Wenn ich Moritz fürs Wochenende abhole, sitzt er meist mit vier anderen Bewohnern vor dem Fernseher."

Keiner von ihnen verstehe irgendetwas von dem, was sich auf der Mattscheibe tut. Doch keiner beklage sich, alle seien ruhig. Und das gestresste Personal, sagt Geggerle, könne endlich Liegengebliebenes aufarbeiten.

Situation für Menschen mit Behinderung bald nicht mehr tragbar

In seiner Petition macht er deutlich: Wenn die Arbeit in der Behindertenhilfe nicht attraktiver wird, wird die Situation für Menschen mit Handicap und ihre Angehörigen bald nicht mehr tragbar. "Ich selbst hole inzwischen meinen Sohn schon mal aus der Einrichtung zu mir nach Hause, weil ich merke, dass das Personal kräftemäßig absolut am Limit ist", erzählt der Alleinerziehende. Er kann das jedoch nicht oft tun, weil er beruflich sehr gefordert ist.

Der Verband Sonderpädagogik rührt die Werbetrommel für mehr Nachwuchs in der Behindertenhilfe. "Anfang Juli riefen wir ein Aktionsbündnis Fachkräftegewinnung ins Leben", berichtet die Bundesvorsitzende Angela Ehlers. Bei einer Auftaktveranstaltung am 15. September wollen Fachverbände Ideen sammeln, wie die Situation verbessert werden kann.

Laut der Inklusionsexpertin aus Schleswig-Holstein müssten zum Beispiel die Studiengänge der Sonder- und Sozialpädagogik reformiert werden. "Außerdem bräuchten wir eine Professionalisierung der Schulbegleitung." Schüler könnten monatelang nicht zur Schule gehen, weil ihnen eine persönliche Assistenz fehle.

Dachverband: Forderungen sind berechtigt

Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge, eine Dachorganisation der gesamten Sozialbranche, hält die Forderungen der Fachverbände und Angehörigen für berechtigt. Vorstand Michael Löher ist die dramatische Personalnot bekannt: "Teilweise musste die Heimaufsicht wegen Nichterfüllung der Fachkraftquote einschreiten." Der Fachkräftemangel belaste das verbliebene Personal immer stärker. Der Stress mache sie krank. In der Folge fielen noch mehr Leute aus. Ein Teufelskreis.

Befürchtet wird eine Flucht aus dem Beruf. "Insgesamt denkt im Augenblick etwa die Hälfte der Menschen in der Behindertenhilfe darüber nach, den Beruf zu verlassen", sagt Sarah Bormann von der Gewerkschaft ver.di. Dies habe eine Ende 2021 veröffentlichte Befragung ergeben, an der über 8.000 Beschäftigte aus Einrichtungen der Behindertenhilfe teilnahmen. Das sei "erschreckend".