Vielleicht ist es aber gerade die Diaspora-Situation und das Leben in einem Mischgebiet zwischen Hessen und Baden-Württemberg und eben Bayern, das die Menschen hier zusammenschweißt.
Wer mit Dorothea Müller durch Miltenberg läuft, erlebt eine engagierte Kultur- und Tourismusaktivistin aus Miltenberg, die sich durch ihre lebendigen Stadtführungen und kreativen Projekte einen Namen gemacht hat. Sie hat nicht nur die Holzkugelbahn im Miltenberger Stadtpark ins Leben gerufen oder zeigt den Gästen die "Mildenburg" auch gerne mal per Taschenlampenführung, sondern kennt auch die kleinen, aber charakteristischen Geschichten der Stadt, die man in einem Reiseführer nicht ohne weiteres findet.
Zum Beispiel die von der Jesus-Figur an der über der Altstadt thronenden, aus rotem Mainsandstein errichtete Johanneskirche, dem erst 1895 entstandenen neugotischen Bau, die erst seit 1979 so heißt. "Aus Rücksicht auf die Patronatsherren Laurentius und Jakobus der katholischen Kirchen, wurde hier kein anderer Heiliger platziert, sondern eben eine Person des allgemeinen Konsens", erklärt sie eine der Mythen, die eigentlich gut zur ebenso offenen wie verbundenen Art der Miltenberger passt. Diese Charakterzug, so Müller, spiegele sich auch in dem Wetterhahn auf dem Kirchendach, der auf das dreimalige Verleugnen Jesus durch Petrus anspielt, "bevor der Hahn krähte". "Es gibt keine größere Gnade, als dem zu verzeihen, der einen verrät. Daher soll der Hahn jeden in diese Kirche einladen, der schwer mit Schuld beladen ist, egal wie sehr", meint Müller.

Ohne Kommerzienrat Gustav Jakob wäre es mit der evangelischen Kirche in dem bislang streng katholischen Ort wohl nichts geworden: Der protestantische Industrielle spendete nicht nur eine ganze Menge Geld für den Bau, sondern auch gleich noch das Grundstück dazu. Mit der Bedingung, dass die Kirche am 2. September, dem 25. Jahrestag der Schlacht von Sedan, eingeweiht werden muss.
Die Glasfenster, die Szenen aus dem Alten und Neuen Testament darstellen, wurden zwischen 1965 und 1967 von dem Maler Peter Valentin Feuerstein entworfen und in den Werkstätten Peter Meysen in Heidelberg ausgeführt. Heute ist die Johanneskirche nicht nur ein Ort des Gottesdienstes, sondern auch ein kulturelles Zentrum, das regelmäßig Konzerte und Veranstaltungen anbietet. Die Kirche ist täglich von 9 bis zum Einbruch der Dunkelheit geöffnet und lädt Besucher ein, ihre Architektur und Kunstwerke zu erleben.
Jüdischer Friedhof an der Stadtmauer
Am Fuße der Kirche fällt der Alte Jüdische Friedhof zwischen der Stadtmauer und dem Burgweg oberhalb des ehemaligen Stadtgrabens auf. Er wurde bereits im 15. Jahrhundert angelegt und bis 1904 genutzt. Um die Pflege sorgt sich aus historisch gewachsener Verbindung die Israelitische Kultusgemeinde Münchens.
Vor seiner Errichtung wurden Verstorbene der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main beigesetzt. Der älteste erhaltene Grabstein stammt aus dem Jahr 1715. Im 18. Jahrhundert wurden die Verstorbenen zeitweise in Kleinheubach beigesetzt, bevor im 19. Jahrhundert wieder Bestattungen in Miltenberg stattfanden. Der Friedhof umfasst eine Fläche von etwa 1.720 Quadratmetern. Besonders bemerkenswert sind die in die Stadtmauer eingelassenen Nischen, von denen eine den Grabstein eines Kohen enthält. Im Jahr 1726 wurde eine Chewra Kaddischa (Beerdigungsbruderschaft) gegründet. Der in Miltenberg geborene Wilhelm Klingenstein, der später nach England auswanderte, vermachte der Stadt 1.000 Pfund zur Instandhaltung der Friedhöfe. Seine Spende ermöglichte unter anderem die Renovierung der Friedhofsmauer im Jahr 1913, was durch eine Inschrift an der Mauer dokumentiert ist.

In die Landeshauptstadt ist man von Miltenberg per Auto oder Zug mindestens fünf Stunden unterwegs. Erst seit 1803 gehört die Region zu Bayern, davon hatten die Erz- und Kurfürsten von Mainz rund 600 Jahre lang das Sagen hier. "Ins Rhein-Main-Gebiet fühlen wir uns bis heute zugehörig. Uns verbindet unser Dialekt und die Verkehrsanbindung von Bahn und Autobahn", beschreibt sie die Lage. Aus München "verirre" sich meist nur vor Wahlen ein hochrangigerer Politiker.
Kurfürsten und bayerische Landnahme
Immerhin drückt sich aber im seit 2007 sich immer stärker etablierenden Namen "Churfranken" sowohl die Tradition der Region erhalten als auch ein verbindendes Selbstverständnis aus. Der Begriff leitet sich her aus der Zeit, als die Kurfürsten von Mainz eine Art "Kurfürstentum Franken" innerhalb ihrer vielfältigen Ländereien führten. "Chur" bedeutet "Kur" – also die geistliche Würde als Kurfürst –, und "Franken" verweist auf die Region Franken, zu der das Gebiet geografisch gehört. Der Begriff wurde später verwendet, um diese spezifische Region zu benennen, die besonders stark von der Mainzer Kurfürstenherrschaft geprägt war. Heute wird "Churfranken" vor allem als regionale Bezeichnung für diese historische Kulturlandschaft genutzt, die durch ihre Weinberge, das Mainufer und die Verbindung zum Erzbistum Mainz charakterisiert ist. In moderner Zeit wird der Begriff auch für touristische, kulturelle und regionale Identitätszwecke verwendet, um die Einzigartigkeit der Region zu betonen.
Der Churfranken e.V. hat sich seit seiner Gründung im Jahr 2007 der Aufgabe verschrieben, das touristische Potenzial der Region auszuschöpfen und seine Möglichkeiten nach einer umfassenden Neuordnung der touristischen Strukturen stärker zu nutzen. Dabei konnte idealerweise der bereits bestehende Regionalmarketingverein Mainland Miltenberg zur Basis des neuen Zusammenschlusses gemacht werden.

Dass es ohne gemeinschaftliches Handeln nicht geht, weiß auch Iris Kreile, Pfarrerin der Trinitatisgemeinde im nahen Klingenberg am Main und für rund 1100 Evangelische in der ebenfalls katholisch geprägten Kleinstadt sowie dem benachbarten Wörth zuständig. "Die Diaspora-Situation hat aber auch Vorteile: Gerade weil es keine allzu lange gewachsenen Strukturen gibt, muss man nur wenig Rücksicht auf alte Traditionen legen und kann gemeinsam neue Dinge entwickeln", sagt die Pfarrerin, die vor Antritt ihrer ersten Leitungsstelle bereits im oberbayerischen Penzberg ähnliche Erfahrungen gemacht hat. So gebe es sogar erste Überlegungen, gemeinsam mit der katholischen Gemeinde sich ein Gemeindehaus zu teilen.
Beziehungsreichtum im Klingenberg
In Klingenberg und Wörth könne sie auf ein enges, städtisches Netzwerk und eine "beziehungsreiche Gemeinde" zurückgreifen. Zu besonderen Formaten wie den "Rückenwind-Gottesdiensten", der viermal im Jahr in offener Form mit moderner Musik und thematischen Schwerpunkten gestaltet wird, oder der Osternacht, bei der dann auch der Kirchenchor ebenso wie bei Kantaten-Gottesdiensten seinen Auftritt hat, kommen nicht nur die Evangelischen, sondern eben auch die katholischen Mitchristinnen und -christen – und sogar viele, die sich keiner Glaubensgemeinschaft zugehörig fühlen.
Die Trinitatiskirche in ist ein markantes Beispiel moderner Sakralarchitektur und das geistliche Zentrum der evangelisch-lutherischen Trinitatisgemeinde Klingenberg/Wörth. Sie wurde am 5. Juni 1966 geweiht, nachdem die wachsende evangelische Gemeinde ihren bisherigen Betsaal, der seit 1927 genutzt wurde, aus Platzgründen nicht mehr ausreichend fand. Der Münchner Architekt Franz Gürtner entwarf die Kirche mit einem dreieckigen Grundriss, der die Dreieinigkeit Gottes symbolisiert. Diese Form findet sich in vielen Elementen der Kirche wieder, darunter die Glasfenster, das Dach, der Glockenturm sowie Kanzel und Altar. Die zeltartige Dachkonstruktion vermittelt im Inneren eine Atmosphäre von Wärme und Geborgenheit.
Ein besonderes Highlight ist das Altarfenster des Münchner Glaskünstlers Josef Reißl. Es zeigt drei Augen, die die drei göttlichen Personen darstellen: Gott Vater, umgeben vom göttlichen Dreieck; Gott Sohn, eingerahmt von einem roten Kreuz; und den Heiligen Geist, dargestellt als Auge inmitten bunter Pfingstflammen. Diese Flammen verbinden die drei Figuren und symbolisieren ihre Einheit.
Wenn dann Klingenberg im kommenden Jahr seine 750-Jahr-Feier hat, wird die Kirche 60 Jahre alt – und dieser runde Geburtstag soll dann auch gebührend gefeiert werden.

Nur wenige Kilometer entfernt liegt mit Kleinheubach eine evangelische Enklave in dem katholisch geprägten Churfranken. Das Pfarrersehepaar Judith Haar-Geißlinger und Sebastian Geißlinger betreut hier sowie in den benachbarten Orten Eschau und Hofstetten rund 1450 Gemeindeglieder, mit der Anfang des 18. Jahrhunderts entstandene Pfarrkirche St. Martin als Herzstück. "Dass hier mal eine Kirchenburg war, entdecken nur diejenigen, die genau hinsehen", sagt Sebastian Geißlinger.
War an der Substanz der Mauern im Lauf der Jahre immer wieder umgearbeitet worden, sei die konfessionelle seit dem Wirken des evangelischen Erbauers, Graf Philipp-Ludwig von Erbach, hier immer noch stark spürbar. Wenngleich sich die Gemeinde gesellschaftlich stark gewandelt habe. "Die Mischung macht es aus – und alleine geht gar nichts", ist Geißlinger überzeugt.
Dauphin-Orgel
Dass geistliches Leben in Kleinheubach eine Zukunft hat, liegt vielleicht auch an der außergewöhnlichen Orgel der Kirche, die immer wieder neue Gäste beeindruckt. Diese wurde 1710 von dem Orgelbauer Johann Christian Dauphin (1682 bis 1730) erbaut und gilt als ein Meisterwerk des Barockorgelbaus. Dauphin, ursprünglich aus Thüringen stammend, ließ sich um 1707 in Kleinheubach nieder und war bekannt für seine kunstvollen Orgeln.
Die Orgel in der St. Martinskirche zeichnet sich durch ihren prachtvollen Prospekt aus, der die gesamte Westwand der Kirche ziert. Mit zwölf Registern und einem Manual bietet sie einen vollen, warmen Klang, der den barocken Stil der Kirche perfekt ergänzt. "Die Orgel ist nicht nur ein technisches Meisterwerk, sondern auch ein kulturelles Erbe, das regelmäßig in Konzerten und Gottesdiensten zum Leben erweckt wird", meint Geißlinger. Nicht zuletzt habe ihr Erbauer viele Nachkommen, deren Familien zu großen Teilen auch heute noch in der direkten Umgebung leben.
Ein starker Motor für Gemeinschaft und soziale Verantwortung in Kleinheubach sei das "Spendenparlament" des Diakonischen Vereins, der hilfsbedürftige Menschen in Kleinheubach und Umgebung unterstützt. Die Mitglieder des Spendenparlaments entscheiden demokratisch, welche Projekte gefördert werden. Der Diakonische Verein sorgt dafür, dass die organisatorischen Abläufe – von der Verwaltung der Spenden bis zur rechtssicheren Abwicklung – reibungslos funktionieren.
Bilderbibel
Ein Tipp für kirchenhistorisch Interessierte ist außerdem die Martinskapelle in Bürgstadt – ein herausragendes Beispiel frühmittelalterlicher Sakralarchitektur in Franken und einer der ältesten erhaltenen Kirchenbauten der Region. Die Kapelle wurde vermutlich zwischen 900 und 1000 errichtet und diente zunächst als Pfarrkirche für das südwestliche Mainviereck. Ein herausragendes Merkmal der Kapelle ist die vollständige Ausmalung des Innenraums aus der Zeit der Gegenreformation (1589 bis 1593). Der Nürnberger Maler Andreas Herneisen begann 1589 mit der Ausmalung des Chorraums, der Decke und der Empore. Ab 1590 setzte ein weiterer Künstler, bekannt unter den Initialen IBM, die Arbeiten fort und schuf 1593 einen Medaillonzyklus im Langhaus. Diese "Bilderbibel" besteht aus 40 Medaillons mit Szenen aus dem Alten und Neuen Testament, ergänzt durch deutsche Untertexte, um die Heilsgeschichte auch Analphabeten zugänglich zu machen.
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