Ein leuchtend oranger Untersuchungsstuhl steht in der Ecke des abgedunkelten Raumes. Er erinnert an den Stuhl einer Gynäkologie-Praxis – nur ist er kleiner. Statt Frauen nehmen hier Kinder Platz. Eine kleine Puppe liegt darauf, neben ihr befindet sich ein Handspiegel.
"Es ist wichtig, dass die Kinder sehen können, was bei der Untersuchung passiert", sagt Luise Schönfeld. Die Kinderärztin behandelt junge Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie Opfer von sexueller Gewalt oder körperlichem Missbrauch geworden sind.
Amalia Nathan Haus in Fürth
Schönfeld arbeitet aktuell am Klinikum Fürth. Bald untersucht sie die Kinder auch hier: im Amalie Nathan Haus. Es ist ein Kinder- und Jugendschutzhaus, das für junge Menschen "ein Ort der Hoffnung und Wärme" werden soll. So beschreibt es der bayerische Innenminister Joachim Herrmann bei der Eröffnung des Hauses.
Gemeinsam hat das Klinikum Fürth mit Justiz, Polizei, Jugendämtern und der Stiftung Kinderförderung von Playmobil das Großprojekt fünf Jahre lang geplant und vorbereitet. Jetzt ist es so weit: Unter einem Dach arbeiten alle wichtigen Stellen zusammen.
Bislang wurden betroffene Kinder von Institution zu Institution geschickt: Gespräche beim Jugendamt, Vernehmungen bei der Polizei oder Anhörungen im Gerichtsgebäude. Die Orte sind für Kinder oft einschüchternd, die wiederholten Konfrontationen mit dem Erlebten stellen eine starke Belastung dar.
Im Kinderschutzhaus ist das anders. Alle notwendigen Untersuchungen, Behandlungen und Vernehmungen finden fortan in einer kindgerechten Umgebung statt. Im Fokus steht das Wohl des Kindes.
Kinder- und Jugendschutzhaus
Stofftiere, Puppen und Spielzeug hauchen den Räumen des Hauses Leben ein. Bunte Malereien verzieren die Wände. Bilder schmücken die Decken, auf die der Kinderblick bei Untersuchungen fällt. Die regionale Künstlerin Pia Salzer hat die Bilder für das Kinderschutzhaus gemalt. Menschen sind nicht zu sehen: Schon der Anblick bestimmter Motive könne die Kinder retraumatisieren.
"Wir wissen nicht, in welchen Situationen das Kind misshandelt wurde", erklärt Florian Trini, Kinderschutzmediziner und Leiter des Amalie Nathan Hauses. Es gehe im gesamten Haus darum, die Betroffenen nicht unter Druck zu setzen und gleichzeitig der Wahrheit ein Stück näherzukommen, fügt der Polizeipräsident von Mittelfranken, Adolf Blöchl, hinzu. Die Kinder können sich bei ihrem Aufenthalt im Amalie Nathan Haus jederzeit in ein extra eingerichtetes Spielzimmer zurückziehen.
Untersuchungen, psychologische Betreuung, Vernehmung
Rund 70 Kinder pro Jahr seien es allein in Fürth, bei denen verdächtige Verletzungen oder Anzeichen von Vernachlässigung untersucht werden, sagt Trini. Besteht bei einem Kind der Verdacht, Opfer von Missbrauch oder Vernachlässigung zu sein, kontaktieren Jugendamt, Kinderärzte oder andere Stellen fortan die sogenannten Fallmanager des Amalie Nathan Hauses. Das passiert zum Beispiel, wenn das Kind Verletzungen aufweist, die nicht zum geschilderten Unfallgeschehen passen. Die medizinisch und pädagogisch geschulten Fallmanager entscheiden dann, was zu tun ist und koordinieren die Versorgungsschritte.
Im Kinderschutzhaus können die Kinder nicht nur medizinisch untersucht und psychologisch betreut, sondern auch strafrechtlich vernommen werden. Der Vernehmungsraum ist schlichter gestaltet als die anderen Zimmer. Die Wände sind weiß. Zwei Puppen sind die einzigen Gegenstände, die auf ein für Kinder ausgerichtetes Zimmer hinweisen. Inmitten des Raums stehen zwei Polsterstühle. Hier sitzen das Kind und die Richterin oder der Richter, andere Verfahrensbeteiligte befinden sich in einem abgeschirmten Nebenraum, darunter auch die möglichen Täter.
"Quantensprung für Polizei und Justiz"
An den Wänden hängen große Bildschirme. An jeder Ecke des Raumes ragen Kameras hervor, versteckt in dunklen Kugeln aus Glas. Was den Eindruck eines schlicht gestalteten Raums erweckt, ist in Wahrheit ein komplex durchdachtes Konzept: "Wir haben Schallschutz in höchster Stufe angebracht, sodass die Anhörung autark ist und damit im Nebenzimmer der potenzielle Täter keine Einflussnahme hat", sagt Trini.
Die moderne Technik ermöglicht, dass die Vernehmungen für das Gericht verwendet werden können. Das erspare den Betroffenen, im Gericht erneut und unter großem Druck aussagen zu müssen. "Es ist ein Quantensprung für Polizei und Justiz, unter einer schonenden Atmosphäre das Geschehen aufzuarbeiten", sagt Polizeipräsident Blöchl.
Ziel: Weniger Retraumatisierung und mehr Erfolge bei Verfahren
Aktuell gibt es eineinhalb Vollzeitstellen im Amalie Nathan Haus, Honorarkräfte kommen aus der Klinik dazu. Ob das neue Kinderschutzhaus wirklich weniger Retraumatisierung und mehr Erfolge bei den strafrechtlichen Verfahren hervorbringt, müssen Trini und sein Team beobachten. "Wir erfassen jetzt Daten, die bisher niemand gesammelt hat, weil jede Behörde für sich agiert hat", erklärt der Arzt.
Es sei eine große Herausforderung, alle Bereiche im Blick zu haben. "Wenn das Jugendamt sagt, bei dem Kind sei alles wieder in Ordnung und wir sehen aber, dass es körperlichen Aufholbedarf gibt, müssen wir gemeinsam entscheiden, wie wir weiter verfahren."
Kompetenzzentrum in Nordbayern
Die Stiftung Kinderförderung garantiert mit einem siebenstelligen Betrag den Betrieb des Amalie Nathan Hauses für die nächsten fünf Jahre. Ein Beratungsausschuss sucht schon jetzt nach Möglichkeiten, wie das Projekt auch darüber hinaus finanziert werden kann. Denn in Zukunft soll das Kinderschutzhaus zu einem Kompetenzzentrum in Nordbayern und überregionalen Vorreiter für Kinder- und Jugendschutz werden.
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